RotFuchs 226 – November 2016

Weiter so in Schwerin und in Berlin?

Arnold Schölzel

Wahlen in heutigen imperialistischen Staaten bestätigen regelmäßig, was Lenin vor hundert Jahren, im Oktober 1916, in seinem Artikel „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“ notierte: „Ohne Wählen geht es in unserem Zeitalter nicht; ohne die Massen kommt man nicht aus, die Massen aber können im Zeitalter des Buchdrucks und des Parlamentarismus nicht geführt werden ohne ein weitverzweigtes, systematisch angewandtes, solide ausgerüstetes System von Schmeichelei, Lüge, Gaunerei, das mit populären Modeschlagworten jongliert, den Arbeitern alles mögliche, beliebige Reformen und beliebige Wohltaten verspricht – wenn diese nur auf den revolutionären Kampf für den Sturz der Bourgeoisie verzichten.“ (LW, Bd. 23, S. 114/115) Die damalige Stelle des Buchdrucks, also der Presse, nehmen heute neben den bürgerlichen „Print-Medien“ staatsmonopolistische Fernseh- und Rundfunkanstalten sowie weltumspannende Kommunikationskonzerne ein.

Karikatur: Gertrud Zucker

Lenin arbeitete damals heraus, daß es Gruppen innerhalb der Arbeiterklasse gab, die wegen der ihnen gewährten ökonomischen Privilegien besonders empfänglich für politische oder soziale Almosen waren. Am Streben nach Pöstchen und Mandaten als politischem Hauptziel hat sich bis heute nichts geändert. Was Lenin nicht kannte, war eine dauerhafte Unterprivilegierung fast aller Beschäftigten in bestimmten Regionen reicher Länder. Er kannte keine Wirtschaftskrise in den Dimensionen von 1929 oder von 2008/2009 mit einer über Jahre sich hinziehenden Depression. Deren gegenwärtige Folgen, eine hartnäckig hohe Erwerbslosigkeit bei gleichzeitig raschem Anwachsen des Vermögens der Wohlhabenden, ist in Ost- und Südeuropa sichtbar, aber auch in weiten Teilen Großbritanniens, Frankreichs und der Bundesrepublik. Grimmen oder Wolgast sind, formulierte einmal Hermann Kant gegenüber einem westdeutschen Gesprächspartner, „eine andere Welt“ im Vergleich mit Freiburg im Breisgau oder dessen Umgebung.

Die gnadenlose Zerstörung von produzierendem Gewerbe, das die DDR bewußt im heutigen Mecklenburg-Vorpommern angesiedelt hatte, begann vor über 25 Jahren. Wer sich über die Ursachen für das Ergebnis der Landtagswahlen vom 4. September informieren möchte, sollte bei diesem Tatbestand beginnen – und „das System von Schmeichelei, Lüge und Gaunerei“ anschauen, das vor diesem Hintergrund agiert.

Erklären heißt auch in diesem Fall nicht rechtfertigen. Ohne Erklären ist aber auch keine Strategie für sozialistische oder kommunistische Politik zu finden. Dazu gehört auch die Ansage: Niemand ist gezwungen, den Nazis in Nadelstreifen, die in Mecklenburg-Vorpommern die Landtagsfraktion prägen, seine Stimme zu geben. Allerdings: Von ihrem sozialen Status und ihrer Qualifikation her handelt es sich um Leute, die insbesondere in der CDU oder der FDP auch hätten antreten können. Die AfD ist wie in der BRD insgesamt im Nordosten Teil eines Bürgerblocks, der je nach politischem Bedarf die Flanke für offene oder verdeckte Nazis offenhielt und offenhält. Sie ist eine Partei von Berufssoldaten, völkischen Ideologen, hohen Ministerialbeamten, Selbständigen und – gemessen am Wähleranteil – die Partei vieler Arbeiter, Erwerbsloser und Angestellter.

Innerhalb des Bürgerblocks waren und sind die Übergänge stets fließend. Offen Naziparolen zu verwenden ist in CDU und CSU noch inopportun, aber die in Leipzig gewählte, aus München kommende CDU-Abgeordnete Bettina Kudla hat mit „Umvolkung“ nur das ausgesprochen, was in ihrem Landesverband der Sache nach seit 1990 landläufig ist. Selbst die intellektuellen Drahtzieher der „neuen Rechten“ vermeiden derartige Vokabeln, sie sprechen von „Bevölkerungsaustausch“. Das tun sie seit Jahren, strategisch und planmäßig. Diese Ideologen haben in den vergangenen 25 Jahren insbesondere in Ostdeutschland ein Netzwerk von Zeitschriften, Verlagen und Internetportalen aufgebaut, sozusagen ein Untersystem eigener Gaunerei und Schmeichelei. Sie entwickelten im Grunde das Konzept der von Hunderttausenden Ostdeutschen gelesenen Zeitschrift „Super-Illu“ weiter. Das besagt: Hetze gegen den Sozialismus der DDR, aber Pflege ostdeutscher Heimatgefühle und kultureller Seiten der DDR. Von „Rassen“ ist da keine Rede mehr, sondern von Kulturen. Das geht unmittelbar in fremdenfeindliche Hetze und Lügen über. Auch das ist Kalkül. Der Berliner AfD-Chef Georg Pazderski, Exbundeswehroberst mit NATO-Stabserfahrung, rechtfertigt das mit dem Satz „Perception is reality – Wahrnehmung ist Realität“, der Leitformel aller sozialen Demagogie. Wer sich darüber informieren möchte, wie diese abstrakte These selbst hochgebildete Bolschewiki weltanschaulich und politisch verwirren konnte, lese in Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ die Passagen über den Bischof George Berkeley (1685–1753), den Stammvater des subjektivistischen „Esse est percipi – Sein ist Wahrgenommenwerden“. In der Praxis politischer Propaganda (oder der psychologischen Kriegführung, die Pazderski vermutlich gut beherrscht) besagt der Satz: Es geht nicht um Wahrheit, sondern um Wirkung.

Ideologische und psychologische Kriegführung gegen große Teile der eigenen Bevölkerung – das ist das von Lenin bezeichnete mediale und politische Schmeichel- und Gaunersystem. In Krisenzeiten wird es zu einem bestimmenden Faktor. Die Demagogie, mit der die BRD-CDU und ihre ostdeutschen Helfershelfer 1989/90 als Vortrupp der westdeutschen und internationaler Monopole in der DDR agierten, steht hinter der heutigen nicht zurück. Allerdings: Damals konnte leichtgläubigen Gemütern noch eingeredet werden, in Grimmen oder Wolgast würden bald dieselben Verhältnisse herrschen wie im Badischen.

Das hat sich gründlich geändert: Statt Wohltaten kündigt die psychologische Kriegführung heute zumeist mehr Armut, Rentenkürzungen, Abbau der sozialen Infrastruktur und Krieg an. Die Kanzlerin hat die dafür entscheidende Vokabel in die Sprache der Politik eingeführt: „alternativlos“.

Zu den Parteien, die in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin den politischen Umschwung von der Verteilung von Almosen hin zu einer Politik der Verordnung von Armut, des Ausgeschlossenseins und des Verödens ganzer Regionen exekutierte, gehörte in Schwerin von 1998 bis 2006 die PDS, in Berlin von 2002 bis 2011 die PDS/Die Linke. Sie hatten unmittelbar Anteil an diesem wahren, dem entscheidenden Rechtsruck in den vergangenen 26 Jahren.

Die Folgen dieser Politik und das Festhalten am Dogma der Regierungsbeteiligung haben der Partei Die Linke in Mecklenburg-Vorpommern ein Debakel beschert. In Berlin profitierte sie offensichtlich davon, daß viele vor allem offenbar in Westberlin, die von der korrupten SPD die Nase voll hatten, ihr die Stimme gaben und nicht wenige eine zu starke AfD verhindern wollten. In Schwerin hatte das vorläufig lediglich den Putsch in der Fraktion gegen den Ministeraspiranten Helmut Holter zur Folge. In Berlin, der Armutsmetropole der Republik und deren vermutlich größtes Zentrum von Korruption auch nach bürgerlichen Maßstäben, begibt sich die Führung der Landespartei gut gelaunt erneut in den politischen Sumpf.

Zu befürchten ist: Die AfD hat bei beiden Wahlen nur die ersten Früchte des von anderen herbeigeführten Rechtsrucks geerntet. Denn die in Schwerin wie in Berlin Regierenden kennen allein ein „Weiter so“. Das ist in Krisenzeiten ein Förderprogramm für den Bürgerblock, einschließlich seiner Faschisten.