RotFuchs 186 – Juli 2013

Die „besondere historische Verantwortung
der BRD gegenüber Israel“

Wer Öl ins Feuer gießt …

Prof. Dr. Horst Schneider

Ende Januar bombardierten israelische Kampfflugzeuge eine militärische Forschungsanlage in Dschamraja, nördlich von Damaskus. Der Anflug erfolgte über Südlibanon, wobei dessen Luftraum verletzt wurde. Die Möglichkeit, daß es sich dabei um einen vereinzelten Zwischenfall gehandelt haben könnte, ist unterdessen durch die Tatsache ausgeschaltet worden, daß Israels Luftwaffe weitere Attacken auf Ziele in Syrien unternommen hat.

Wer auf einer Insel lebt, sollte sich das Meer nicht zum Feind machen, besagt ein Sprichwort. Bevorzugt Tel Aviv die eigentlich anachronistische Formel: Viel Feind, viel Ehr? Ist das Faustrecht zum Grundprinzip des israelischen Auftretens in der internationalen Arena geworden?

Wer solche Fragen beantworten will, wird mit Gewißheit sofort des Antisemitismus bezichtigt. Denn eine Denunziation ist allemal billiger als die Prüfung der Fakten.

Sollte man nicht fragen: Hat derjenige, der Hitlers faschistische Völkermordpolitik benannte und bekämpfte, damit Deutschland oder die Deutschen beleidigt? War jeder, der gegen die barbarischen Kolonialkriege Frankreichs, Englands oder Portugals protestierte, deshalb ein Feind der Völker dieser Länder? Gibt es nicht einen international gültigen Maßstab zur Beurteilung der Politik eines Staates – das Völkerrecht?

Der Nahostkonflikt hat einen weit zurückreichenden historischen Hintergrund und ist sehr komplexer Natur. Zionisten und Araber erheben Anspruch auf ein und dasselbe Territorium: Palästina. Dabei handelt es sich um einen nationalen und sozialen Konflikt, nicht aber um einen Zusammenprall von Religionen, obwohl sich Wortführer beider Seiten mißbräuchlich solcher Argumente bedienen. Zionisten berufen sich auf das Alte Testament, islamische Araber auf ihre Anwesenheit seit zwei Jahrtausenden. Der Zionismus existiert seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und begann mit dem Wirken Herzls. Immer schon rangen Großmächte um das Gebiet Palästinas: Ägypter, Perser, Römer, Kreuzritter und Türken.

Nicht wenige Politiker und Publizisten leiten Israels Sonderstellung aus der Bibel und der Siedlungsgeschichte vor 2000 Jahren ab. Im Buch Genesis heißt es: „An diesem Tag schloß der Herr mit Abram folgenden Bund: Deinen Nachkommen übergebe ich dieses Land vom Grenzbereich Ägyptens bis zum großen Strom Eufrat.“ Danach geht es bei Israel um ein „Heiliges Land“, das den Juden nach Gottes Willen zustehe. Doch der wechselvolle Geschichtsverlauf brachte es mit sich, daß die Idee von einem Staat Israel erst im Ergebnis des Ersten Weltkrieges entstand. Völkerrechtlich betrachtet verdankt es seine Entstehung in staatlicher Form aber den Vereinten Nationen.

Am 29. November 1947 beschloß die UNO, das Mandatsgebiet Palästina zu teilen und auf seinem Territorium einen jüdischen und einen arabischen Staat entstehen zu lassen. Obwohl nur etwa ein Drittel der damaligen Bewohner des Territoriums Juden waren, sollte deren Staat 54 % des Terrains erhalten. Vor allem die Schrecken der Völkermordverbrechen des deutschen Faschismus an den europäischen Juden sprachen dafür, den der Hölle Entronnenen einen lebensfähigen Staat, der auch Zuwanderer aufnehmen konnte, zu gewähren. Die USA und die Sowjetunion stimmten dieser Überlegung gleichermaßen zu.

Am 14. Mai 1948 erklärte David Ben-Gurion vor der Knesset in Tel Aviv: „Proklamieren wir hiermit kraft unseres natürlichen und historischen Rechtes aufgrund des Beschlusses der UN-Vollversammlung die Errichtung eines jüdischen Staates in Eretz Israel: des Staates Israel.“ Er werde „für die jüdische Einwanderung und die Sammlung der zerstreuten Mitglieder des Volkes geöffnet sein. Er wird volle soziale und politische Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied der Religion, der Rasse oder des Geschlechts gewähren. Er wird die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, der Sprache, der Erziehung und Kultur garantieren. Er wird die Heiligen Stätten aller Religionen sicherstellen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet sein.“

Tatsächlich wurden jedoch etwa 500 000 Araber gegen ihren Willen dem Staat Israel zugeschlagen, und mit dessen Bildung kam es zu bewaffneten Konfrontationen, in die sich auch Jordanien und Ägypten einmischten. Die Ergebnisse wirken bis heute nach: Israel vergrößerte sein Territorium unter Mißachtung des Teilungsplans der UNO um etwa 50 %. Mehr als eine halbe Million Araber wurden vertrieben oder mußten flüchten.

Zynisch erklärte Premier Schamir am 13. November 1990: „Für eine große Auswanderungswelle benötigten wir ein großes Israel. Die Neueinwanderer konnten überall in Eretz Israel siedeln, auch in Judäa und Samaria.“

Israel entwickelte sich zur Speerspitze des Imperialismus im Nahen Osten, während die UdSSR in den nationalen Bewegungen arabischer Länder potentielle Verbündete sah.

Tel Avivs Völkerrechtsbruch ist eklatant: Israel verhinderte die Bildung des Palästinenserstaates, die ein integrierender Bestandteil des UNO-Beschlusses war. Ein zweiter folgenschwerer Verstoß gegen internationales Recht war seine Teilnahme an der britisch-französischen Aggression gegen Ägypten im Juni 1956. Die von Israel angestrebten territorialen Gewinne, die Ben Gurion führenden Politikern Großbritanniens und Frankreichs bei einem Geheimtreffen nahezubringen suchte, überstiegen selbst deren Vorstellungsvermögen. Immerhin heimste Tel Aviv eine Fläche ein, die seine expansionistische Siedlungspolitik ermöglichte. Es bemächtigte sich der Sinai-Halbinsel, des Gaza-Streifens, der syrischen Golanhöhen und des Westjordanlandes einschließlich Westjerusalems.

Der UN-Sicherheitsrat brauchte lange, bis er am 22. November 1967 den Beschluß 242 zustande brachte, der Gebietserwerbungen durch Kriege nicht gestattete. Er unterstrich die Notwendigkeit, eine gerechte und dauerhafte Friedenslösung im Nahen Osten herbeizuführen, damit jeder Staat der Region in Sicherheit leben könne. Folgende Grundsätze sollten dabei Geltung erlangen:

Rückzug der Streitkräfte Israels aus allen 1967 eroberten und besetzten Gebieten, Beendigung des Kriegszustandes, Achtung und Anerkennung der Souveränität, der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit aller Staaten der Region sowie ihres Rechts, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen, frei von Bedrohungen oder Gewaltakten in Frieden zu leben.

Der Beschluß 242, dem auch die USA zustimmten, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Seit 1967 gilt das Verhalten zu diesem Dokument als völkerrechtliche Meßlatte zur Bewertung des Handelns aller Beteiligten. Seit 1968 wurde Israel alljährlich von der UNO-Vollversammlung gemahnt, dem Beschluß 242 endlich Folge zu leisten, wird die Politik Tel Avivs durch dieses Gremium verurteilt. So hieß es z. B. in der Resolution 30/3379 vom November 1975: „Der Zionismus ist eine Form von Rassismus.“ Die ihm zugrunde liegende „rassistische und imperialistische Ideologie“ stelle „eine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit der Welt“ dar.

Israel hat auf 13 fundamentale Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates und acht Resolutionen der UNO-Vollversammlung überhaupt nicht reagiert. Ab 1977 blockierten dann die USA durch ihr Veto sämtliche Entscheidungen des Sicherheitsrates, die als Kritik an Tel Aviv hätten ausgelegt werden können.

Mit Recht verlangt Israel Garantien für seine staatliche Existenz und Sicherheit. Was aber könnte ihm diese besser verschaffen als gutnachbarliche Beziehungen zu seinen arabischen Nachbarn?

Genau das fordert die UNO. In ihrer Resolution 27/2949 „Die Lage im Nahen Osten“ heißt es: „Die Vollversammlung erklärt noch einmal, daß die Aneignung von Territorien durch Gewalt unzulässig ist und daß demzufolge solche okkupierten Territorien wieder zurückgegeben werden müssen.“ Zugleich wird die Forderung nach „Rückzug der israelischen Truppen aus den im jüngsten Konflikt besetzten Gebieten“ abermals bekräftigt.

Das Völkerrecht und die politische Wirklichkeit sind allerdings zwei verschiedene Paar Schuhe. Im Beschluß 43/177 des UN-Sicherheitsrates vom 15. Dezember 1988 wurde z. B. die Ausrufung des Staates Palästina durch den Palästinensischen Nationalrat ausdrücklich anerkannt. Das war vor nahezu 25 Jahren. Wer aber hat die Bildung dieses Staates bis heute verhindert?

Der von Tel Aviv am 2. Juli 2006 befohlene Angriff auf Libanon hatte bereits etliche Vorläufer: die Operation „Liten“ im März 1978, die Operation „Ruhe und Ordnung“ im Mai 1988, die Operation „Friede in Galiläa“ im Juni 1988, bei der die PLO aus Beirut vertrieben wurde, die Operation „Abrechnung“ im Juli 1993 und die Operation „Früchte des Zorns“ im April 1996.

Solange die israelische Politik von den USA, der BRD und anderen NATO-Mächten gedeckt und unterstützt wird, dürfte Tel Aviv von seinem Kurs der Aggressivität und Aggression wohl kaum abgebracht werden. In den USA besitzt es eine mächtige Lobby. In der BRD legten Adenauer und Strauß mit ihren als Reparationen getarnten Waffenlieferungen den Grundstein für eine strategische Partnerschaft. Bei Abstimmungen in der UNO über Israels Völkerrechtsbrüche enthielt sich die BRD in der Regel – ganz im Unterschied zur DDR – der Stimme. Erst jüngst bestätigte der „Spiegel“ noch einmal, daß deutsche U-Boote an Israel geliefert worden seien, die man dort mit Atomwaffen bestückt habe. Mit diesem „Exportgeschäft“ brach die Bundesrepublik ihre Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag.

In der Regel wird erklärt, Deutschland trage wegen des Holocaust eine besondere Verantwortung für Israels Sicherheit. Seit Josef Fischers infamer Behauptung, die Teilnahme der BRD am NATO-Überfall auf Jugoslawien erfolge, um ein „neues Auschwitz“ zu verhindern, dient diese Zwecklüge des Außenministers der Schröder-Regierung als ideologische Allzweckwaffe. Doch nicht nur Juristen wissen: Ein Verbrechen rechtfertigt kein anderes.

Am 6. Juni 2012 kolportierte Springers „Bild“ unter der Schlagzeile „Europa fängt in Israel an“ Äußerungen von Premier Netanjahu, der behauptet hatte, bestimmte Kräfte wollten „Israel eliminieren, um dann weiter nach Europa zu marschieren“. Insofern sei sein Staat die „Frontstellung Europas und der westlichen Zivilisation“. Sind das nicht allzu bekannte Töne aus brauner deutscher Vergangenheit?

Kaum anders artikulierte sich Tel Avivs „Verteidigungsminister“ Ehud Barak: „Die Deutschen können stolz darauf sein, die Existenz des Staates Israel gesichert zu haben.“

Am 18. März 2008 erklärte Angela Merkel vor der Knesset: „Jede Bundesregierung und jeder Kanzler vor mir waren sich der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels bewußt. Diese ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte sein.“

Die Tücken solcher „Solidarität“ hat selbst ein Joachim Gauck 2012 bei seinem Antrittsbesuch in Tel Aviv wahrgenommen: „Ich will mir nicht jenes Szenario ausdenken, das die Bundeskanzlerin in enorme Schwierigkeiten bringt, ihren Satz, daß die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist, politisch umzusetzen“, erklärte er.

Warum will sich der BRD-Präsident nicht das „Szenario“ ausdenken, das in Bundeswehrkreisen längst zu Papier gebracht worden ist? Im Kriegsfalle für Israel müßte die Bundesrepublik als dessen Verbündeter ihre militärischen Ressourcen einsetzen. Gegen wen? Wofür? Mit welchen Folgen?

Der Mißbrauch der Erinnerung an den Holocaust im Dienste aggressiver imperialistischer Ziele hat dazu geführt, daß dieselben Rüstungskonzerne, die Hitlers Krieg ermöglichten, jetzt aus Israels Aggressionen Profit ziehen. „Längst ging es bei der deutsch-israelischen Rüstungskooperation nicht mehr um die Sicherheit Israels, es war zugleich ein Bombengeschäft für die deutsche Industrie“, konstatierte der „Spiegel“. Ein „Bombengeschäft“ im Namen der Holocaust-Opfer?

Wurden die Händler des Todes jemals dafür zur Verantwortung gezogen, daß sie Waffen in Spannungsgebiete lieferten? Kennt Frau Merkel nicht das solche Geschäfte betreffende Verbot?

Im Januar 2013 verurteilte ein eigens dazu berufener UNO-Ausschuß die Siedlungspolitik Israels als grobe Menschenrechtsverletzung. Boutrus Boutrus Ghali, von 1992 bis 1996 Generalsekretär der Vereinten Nationen, erklärte: „Israels Kriege sind weder rechtlich noch moralisch gerechtfertigt.“ Und er fügte hinzu: „Der Konflikt kann nur durch die Anerkennung eines palästinensischen Staates beigelegt werden.“

Unser Autor war Mitglied des Präsidiums der DDR-Liga für die Vereinten Nationen.