RotFuchs 215 – Dezember 2015

Ausdehnung der NATO gen Osten? Niemals!

Wie versprochen, so gebrochen

Jürgen Wagner

Unmittelbar nach dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges wurden in den USA intensive Überlegun­gen angestellt, wie auf die neue Situation zu reagieren sei. Vor diesem Hintergrund gab der da­malige US-Ver­teidigungsminister Dick Cheney ein Papier in Auftrag, das die Ausarbeitung einer künftigen US-Glo­bal­strategie zum Inhalt haben sollte. Unter Aufsicht seines Unter­staatssekre­tärs Paul Wolfowitz wurde das Dokument dann von Lewis Libby und Zalmay Khalilzad verfaßt, die vor allem in der späteren Bush-Administration noch einmal führende Rollen einne­hmen sollten.

Heraus kam mit dem „Defense Planning Guidance“ (auch: „No-Rivals-Plan“) ein Katalog von Maßnahmen, wie die US-Vor­herr­schaft in der Welt dauerhaft zu zementieren sei: „Unser erstes Ziel ist, den (Wieder-)Aufstieg eines neuen Rivalen zu verhüten, sei es auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion oder anderswo. … Wir müssen versuchen zu verhüten, daß irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressour­cen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden, eine Weltmachtposition zu schaffen. Dies bedeutet, die hochentwickelten Industrieländer von jedem Versuch ab­zuhalten, unsere Führungsrolle in Fra­ge zu stellen oder die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung um­zustürzen und die Mechanis­men aufrechtzuerhalten, um möglichen Konkurrenten alle Hoffnung auf eine größere regionale oder globale Rolle zu nehmen.“

Seither gilt es als nahezu unbe­stritten, daß die Kernthesen des No-Ri­vals-Plans fortan die US-amerika­ni­sche Politik bestimmten. Folgerichtig wurde hieraus unter anderem eine Politik zur gezielten Einkreisung und Schwächung Rußlands abge­leitet. Der private Nachrichtendienst „Strategic Forecasting“ (Stratfor), dem beste Kontakte zur CIA nachgesagt werden, konstatiert nüchtern: „Nach dem Fall der Sowje­tunion startete der Westen eine geopolitische Offensive in Ruß­lands Hinterhof und war dabei über­aus erfolgreich.“ Als deren wesentliches Instrument wurde die NATO auserkoren, was aber zwingend erforderte, die dem damaligen sowjetischen General­sekretär Michail Gorbatschow gegebene Zus­age zu brechen, keine Erweiterung des Bündnisgebietes nach Osten vorzunehmen.

Ausgangspunkt ist zunächst einmal das folgende, eigentlich nur schwer fälschlich zu interpretierende Gespräch: „Als US-Außenminister James Baker bei KP-General­sekretär Michail Gor­batschow am 8. Februar 1990 um dessen Zustimmung für den Verbleib des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO warb, versicherte Baker, es werde keine Ausweitung der gegenwärtigen NATO-Juris­diktion nach Osten geben‘. Gorba­tschow setzte nach: ,Jede Erweiterung der Zone der NATO ist unakzeptabel.‘ Bakers Antwort: ,Ich stimme zu.‘ “

Später behauptete Baker, seine Sätze hätten sich lediglich auf das Ge­biet der damaligen DDR bezogen, we­shalb sie keine generelle Absage an eine Erweiterung der NATO dargestellt hätten. Das ist allerdings alles andere als glaubhaft, trat doch der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 2. Februar 1990 zusam­men mit James Baker vor die Presse und beschrieb das Ergebnis ihres Gespräch­s wie folgt: „Wir waren uns einig, daß nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungs­gebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in bezug auf die DDR …, sondern das gilt ganz generell.“

Aus einem lange Zeit geheimen Aktenvermerk geht zu­dem hervor, daß dies auch genau die Aussage war, die Moskau später übermittelt worden war: „Demnach sagte Genscher im Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Scheward­nadse, der Bundesregierung sei ,bewußt, daß die Zuge­hörigkeit eines vereinten Deutschlands zur NATO kompli­zierte Fragen aufwerfe‘. Für sie stehe aber fest: Die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen.“

Allerdings wurde das Thema dann in den weiteren Verhandlungen nicht mehr berührt, und es gab wohl tatsächlich danach keine formale Zusage mehr, das Bündnisgebiet nicht zu erweitern. Westlicherseits wird nun argumentiert, hierdurch seien auch die Aussagen aus dem Februar 1990 gegenstandslos geworden: „Niemals wird laut den Quellen in jener entscheidenden Verhand­lungsphase aber die Nichterweiterung der NATO nach Osten erwähnt. Wenn Gorbatschow sich wirklich auf die Gespräche hierzu vom Februar verlassen hätte, dann hätte er das Thema in dieser Zeit noch einmal vorbringen müs­sen. Er tat es nicht. Im Juli 1990 willigte er in die NATO-Vollmitglied­schaft eines vereinten Deutschland ein.“ Zweifellos kann dieses Versäumnis Gorba­tschows als geopolitische Dummheit allerersten Ranges bezeichnet werden, und über die Gründe hierfür läßt sich nur spekulieren. Allerdings belegen Aussagen Gorbat­schows, daß er augenscheinlich von der Gültigkeit der Zusagen ausging und die später einsetzende NATO-„Realpolitik“ als Bruch der damaligen Übereinkünfte bewertete: „Die Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die NATO nach Osten auszudehnen, wurde 1993 gefällt. Es war definitiv eine Verletzung des Geistes der Stellungnah­men und Versicherungen, die uns gegenüber 1990 gemacht wurden.“

Tatsächlich wurde die Idee, die NATO in Richtung des ehemaligen „Ostblocks“ zu erweitern, schon 1993 vom da­maligen deutschen Verteidigungsminister Volker Rühe in die Debatte eingespeist. Ein Jahr darauf wurde das Pro­gramm „Partnerschaft für den Frieden“ aufgelegt, mit dem vor allem Länder des ehemaligen Warschauer Pak­tes schrittweise an das Bündnis herangeführt werden sol­lten. Daraufhin wurden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik 1997 formell zum NATO-Beitritt eingeladen, der am 12. März 1999 offiziell erfolgte. Fast zeitgleich begann die NATO mit ihrem Angriffskrieg ge­gen Jugoslawien – ein drastischer Völkerrechtsbruch, da er ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates und damit am russischen Vetorecht vorbei durchgeführt wurde. Auch danach ging es Schlag auf Schlag weiter: 2004 wurden weitere sieben Staaten, darunter mit Estland, Lettland und Litauen auch ehemalige Gliedstaaten der Sowjetunion, in das Bündnis aufgenommen, obwohl Moskau dies stets als „rote Linie“ bezeichnet hatte, die keinesfalls über­schritten werden dürfe. Mit großer Sorge beobachtet man dort seit langem die NATO-Rake­ten­abwehrpläne, in denen man – nicht ohne Grund – einen gezielten Versuch sieht, das rus­sische Zweitschlagspotential zu neutralisieren. Ab 2003 setzten dann noch die „bunten Revolutionen“ ein, bei denen in Moskaus unmittelbarer Nachbarschaft pro-russi­sche durch pro-west­liche Machthaber ersetzt wurden. Dazu gehörten die vom Westen unterstützten Umstürze in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgisien (2005).

Die Folge war, daß in Rußland ein grundlegender Kurswechsel eingeleitet wurde, um der als feindlich empfun­denen NATO-Expansions­politik eigene Schritte entgegenzusetzen.

Aus: Expansion – Assoziation – Konfrontation: Europas Nachbarschaftspolitik, die Ukraine und der neue Kalte Krieg gegen Rußland. (Redaktionell bearbeitet)