RotFuchs 214 – November 2015

Politische Kulminationspunkte und kulturfeindliche Exzesse
im 20. Jahrhundert

Wovon Weimar Zeugnis ablegt

Werner Voigt

Weimarer Erinnerungen“ – so heißt eine Sonette-Sammlung Walther Victors (1895–1971), ausgestattet mit hervorragenden Fotos von Stätten der klassischen deutschen Literatur in und um Weimar. Das Buch erschien erstmals 1964 im Volksverlag Weimar und erlebte, was bei Lyrikbänden wohl eher selten ist: sieben Auflagen.

Das Goethe-und-Schiller-Denkmal vor dem Nationaltheater

Eines der Fotos präsentiert das Deutsche Nationaltheater mit dem Goethe-Schiller-Denkmal, dieses umkränzt zu Füßen von frischen Gebinden mit breiten Schleifen. Im Buch steht dazu Victors Sonett II, aus dem hier zitiert sei: „… Bunt war der Platz von jungbewegten Mengen/ Im Jahre 20, als wir hier verbrannten/ Ein Hakenkreuz, das Böse zu versengen,/ Das wir nur ahnten, aber noch nicht kannten …“

Es war das zweite Jahr der Weimarer Republik. Ende August 1920 fanden in der Stadt Goethes und Schillers ein Treff der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschlands, ein Kongreß und viele öffentliche Bekundungen statt. Auf den Tiefurter Parkwiesen tanzten Mädchen und Jungen im heiratsfähigen Alter – manche von ihnen waren gerade noch dem „Heldentod“ im 1. Weltkrieg entronnen – fröhlich, verliebt und ausgelassen; zudem hellwach und durchaus kritisch gegenüber ihren Parteioberen. Sie scherten sich wenig um die erhabenen Theaterreden der Politiker über Demo­kratie. Frühzeitig erkannten sie die Gefahren, die von der bereits 1919 gegründeten Hitler-Bewegung ausgingen, welche sich ab 1920 als NSDAP bezeichnete. Im Frühjahr war deren Parteiprogramm veröffentlicht worden, eindeutig chauvinistisch und rassis­tisch.

Weimar – eine architektonische Perle

Darauf und auf den schnöden Diebstahl ihres tags zuvor niedergelegten Kranzes antworteten junge Sozialisten mit der öffentlichen Verbrennung eines in Tiefurt gezimmerten und auf dem Theaterplatz angezündeten hölzernen Hakenkreuzes. Es war ein Tag nach Goethes Geburtstag. Anschaulich schilderte Walther Victor, damals einer aus der linken Hamburger Jugend, die Vorgänge dreißig Jahre später in seinem Tagebuch einer Sommerreise von 1951. Der Titel des in Schwerin verlegten Buches lautete: „Dir allein verleih ich die Stimme“.

Es scheint mir nötig, auf dieses Geschehen besonders hinzuweisen, zumal damit zu rechnen ist, daß 2019 – aus Anlaß des hundertsten Gründungstages der Weimarer Republik – unablässig von der „Geburtsstunde der deutschen Demokratie“ geredet und geschrieben werden dürfte. Doch diese trug den Todeskeim schon in sich. Daß Jahre später die Hitler-Partei Weimar und deren klassische Stätten sowie ganz Thüringen als „Schutz- und Trutzgau“ für sich erobern konnte – nördlich der Stadt der deutschen Klassiker errichteten die Faschisten das KZ Buchenwald – ist eine der fürchterlichen Folgen der Unterschätzung der vom Chauvinismus und Völkerhaß drohenden Gefahr. Die vielgepriesene Weimarer Republik war nichts anderes als eine nationalistische Diktatur des Großkapitals!

Walther Victor mußte nach dem Einsetzen des deutschlandweiten Terrors, der 1933 mit dem Reichstagsbrand begann, untertauchen und publizierte fortan unter Pseudo­nymen. Eines davon hieß C. Redo („Ich glaube”). Auf der Bodensee-Insel Reichenau entstand die vom Eichenverlag Arbon 1936 herausgebrachte Streitschrift „Zwei Deutsche“. Das Titelblatt zeigt als Fotomontage Goethe und Hitler. In mehreren Kapiteln werden Grundaussagen beider über Nation, Volk, Freimaurertum, Literatur sowie Krieg und Frieden einander gegenübergestellt. Damals machten sich manche im Ausland noch Illusionen über das faschistische Deutschland und seinen Führer, auch die „neutrale“ Schweiz, wo sich der Verlagsort befindet. Im Klappentext heißt es u. a.: „Diese Schrift ist eine deutsche Kulturtat!“ Und: „So urteilte ein bekannter deutscher Nobelpreisträger.“ Es dürfte sich dabei um Thomas Mann gehandelt haben, dem 1929 der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde.

Vor den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin suchte sich Nazi-Deutschland den Anschein eines weltoffenen und „ganz normalen“ Landes zu geben. Übrigens knickte die Schweiz bald ein. Ab 1937/38 erteilte sie vielen vor den Faschisten geflohenen Exilautoren keine Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaubnisse mehr. Gewährte Visa wurden nicht verlängert. So sahen sich viele Emigranten zur Flucht in andere Länder gezwungen. Im Sommer 1938 verschaffte der Bürgermeister der luxemburgischen Stadt Esch sur Alzette Walther Victor noch eine Einreisegenehmigung.

Das 20. Jahrhundert birgt viel Schreckliches, war aber auch eine Zeit bewegender Solidarität. Die später geborenen Generationen wissen darüber leider kaum noch etwas. Die meisten Schulen enthalten es ihnen vor. Die Geschichtskenntnisse der Schüler schrumpfen auf Halb-, Viertel- und Unwissen, die Zahl öffentlicher Biblio­theken, besonders im Osten Deutschlands, wurde in den letzten zweieinhalb Jahr­zehnten drastisch reduziert. Die Werke sozialistischer Autoren wie Walther Victor wurden entweder aussortiert oder auf ein Minimum reduziert. Unter dem Namen Victor fand ich in einem elektronischen Bestandsspeicher der zentralen Stadt­bücherei nur noch drei oder vier Anekdotensammlungen. „Kehre wieder über die Berge“, seine hochinteressante Autobiographie (1945 in New York; 1982 in Berlin und Weimar als DDR-Ausgabe erschienen), ist „nicht ausleihbar“, erfährt man.

All das belegt, daß die 1985 formulierten Worte Richard von Weizsäckers „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung vom Faschismus“ aus der Erinnerung der Deutschen verdrängt werden sollen. Der diesjährige 8. Mai war für viele Medienmacher der BRD lediglich der „Tag des Kriegsendes“.

Es bleibt zu hoffen, daß sich die Stadt Weimar der ganzen deutschen Geschichte verpflichtet fühlt und bei künftigen Jubiläumsfeiern Einseitigkeiten zu vermeiden weiß.