RotFuchs 198 – Juli 2014

Die Sicht des Schriftstellers F. C. Weiskopf auf das Jahr 1914

Als der Frieden verlorenging

Marianne Walz

Die literarische Rückschau auf die explosive politische Atmosphäre und die scharfen Klassengegensätze während der Vorkriegsetappe am Beginn des 20. Jahrhunderts unternahm Franz Carl (F. C.) Weiskopf zu einer Zeit, als er auch um das darauf Folgende wußte. 1938 aus Nazideutschland emigriert, schrieb er sein Romanwerk „Abschied vom Frieden“. In einem farbenreichen Sittengemälde zeigt er die überlebte Habsburger „k. u. k-Herrlichkeit im Prag jener Jahrhundertwende. Rund um die Gestalt des freigeistigen Zeitungsverlegers Alexander Reither spannt der Romandichter das vielschichtige Netzwerk einer großbürgerlichen Familie. Besonders die von ihm porträtierten Frauen fordern auf jeweils eigene Weise ihren Anteil an selbstbestimmtem Leben. Dem unfreien, sinnentleerten Dasein einer „Tochter aus bestem Hause“ entgeht jedoch nur die junge Adrienne. Sie schließt sich dem Kampf der sozialistischen Arbeiterbewegung an.

Der angesehene Reither-Verlag ist ein Medienzentrum auf der Höhe der Zeit. Bis hinauf in höchste Kreise von Politik und Wirtschaft pflegt er gekonnt seine Verbindungen. Ein agiler Endfünfziger führt das renommierte Haus: der früh verwitwete Alexander Reither, gebildet, tolerant, weltläufig und sinnenfroh. Er gönnt seinen beiden herangewachsenen Enkelinnen Adrienne und Valérie, genannt Wally, alle Freiheiten eines wohlhabend privilegierten Daseins, die er selbst in vollen Zügen genießt. Seine standesdünkelhafte Schwester Karoline Edle von Treuenfels jedoch findet diese Freizügigkeit immer wieder anstößig. Regelmäßig versammelt sie die Ihren zu feiertäglichen Tischrunden in ihrem Salon. Dort obliegen die Familienmitglieder der gepflegten Konversation, die dann oft mit Migräneanfällen der edlen Dame endet. Das geschieht zum Beispiel, wenn Alexander seine schöne Geliebte, die noch nicht geschiedene Irene von Claudi, vorstellt. Oder wenn Wally ihr Verlöbnis mit Marko Gelusich verkündet: Sie hat sich in dieses zweifelhafte amouröse Abenteuer verstrickt, da es ihr widerstrebt, sich in eine langweilige Ehe wegsperren zu lassen, wie es ihren Tanten Ottilie und Helene geschah. So empfindet sie flüchtige Genugtuung darin, den skrupellos-brutalen Geschäftemacher Gelusich – einen ungebärdig wüsten, kaum vorzeigbaren Kerl – erotisch zu beherrschen …

Mit seinen fast schwelgenden Beschreibungen habsburgischer Behaglichkeit, mit meisterlich gestalteten Dialogen, ob aus Familienkrächen, Liebesgeflüster oder dem Geschäftsalltag des Zeitungsunternehmens, wiegt F. C. Weiskopf seine Leser in Beschaulichkeit, bis in der Mitte des Romans die Idylle unvermittelt abbricht. Da ist Adrienne, beseelt von Verliebtheit und Revolutionsromantik, aus dem Elternhaus getürmt. Auf der Suche nach ihrem Liebsten, dem Druckereiarbeiter und Jungsozialisten Josef Prokop, hat sie Zuflucht in der Küche von Mutter Kalivoda gefunden. Die böhmische Arbeiterfrau tröstet sie und erzählt, wie ihr Vater, Häuer in einem Braunkohlenbergwerk, durch ein schlagendes Wetter getötet worden war, und wie sie, damals fünfzehnjährig, die Sorge für eine gelähmte Mutter und drei kleine Geschwister hatte übernehmen müssen. Wie sie Jahre hindurch um fünf Uhr aufgestanden, eine Stunde weit zur Fabrik gewandert, elf Stunden an der Spinnmaschine gestanden habe. Die Proletarierin berichtet auch von den Mühen und Kämpfen für eine andere Welt, bei denen ihr Mann den Tod fand und für die ihr Sohn Robert und dessen Genossen weiter einstehen.

Adrienne Reither blickt in Mutter Kalivodas Küche erstmals über die Grenzen ihrer Klasse hinaus, überwindet sie, schließt sich den Unbeirrbaren um Robert Kalivoda und Josef Prokop an. Sie bleibt der Organisation auch verbunden, als Josef ihre zärtliche Zuneigung nicht erwidert und seine Mitstreiter ihr die Herkunft zum Vorwurf machen. Sie steht zur Sache, als sie nach einer Streikkundgebung inhaftiert wird. Aus der Lektüre von Schriften der sozialistischen Klassiker, aus Kampfaktionen und Gesprächen mit Genossen ergeben sich ständig neue Fragen, aber auch Antworten darauf: So Roberts Urteil über die angeblich gemütliche, doch verrottete Donaumonarchie: „Diese scheinbar liebenswürdige, schlampige österreichische Abart des Liberalismus“ sei, eben weil sie grundsätzlich alles treiben und weiterstolpern lasse, „aus einer Avantgarde der Bourgeoisie zu einen bloßen Anhängsel der feudalen Mächte geworden“. Sie regiere „Österreich in eine Katastrophe hinein … und wer weiß, vielleicht nicht nur Österreich.“ Demgegenüber läßt sich Gelusich, Wallys reaktionärer „Verlobter“, ganz anders über das Kaiserreich aus. „Der Donauraum braucht zur Entwicklung seiner Wirtschaftskräfte und seiner Expansionswege eine machtvolle staatliche Organisation“, verkündet er.

Zugleich gehe es um „den Zusammenschluß aller Südslawen innerhalb einer Reichsgrenze und die wirtschaftliche Durchdringung Albaniens, Bulgariens, Rumäniens, vielleicht auch der Ukraine“. „Im alleräußersten Fall“ sei Krieg angesagt. Spätestens beim Stichwort Ukraine drängen sich Parallelen zur heutigen Expansion von NATO und EU auf!

Der pazifistisch gesinnte Alexander Reither spürt im Frühjahr 1914 fast körperlich das nahende Unheil. Inmitten der nun brandgefährlichen Spannungen zwischen den imperialen Mächten Europas haben sich die Feindseligkeiten zwischen Österreich und Serbien am sichtbarsten zugespitzt.

Da signalisiert man aus Belgrad die Bereitschaft zum Einlenken, wie aus einer in Journalistenkreise lancierten Nachricht hervorgeht. Alexander nutzt seinen Wissensvorsprung und gute Kontakte zur Regierung für einen verzweifelten Versuch, den Frieden wenigsten um einige Monate zu verlängern. Doch seine Vorsprache beim Außenminister schlägt fehl. Als nur Tage darauf die Schüsse in Sarajevo fallen, weiß er, daß der Frieden verloren ist. Nichts von der vertrauten alten Welt wird so bleiben, wie es war.