RotFuchs 187 – August 2013

Als mich der Kommandant ins Loch setzte

Harry Machals

Aus britischer Kriegsgefangenschaft nach Bad Pyrmont entlassen, war ich zunächst einige Monate als Landarbeiter bei einem Bauern tätig gewesen, als mich meine Eltern zu Jahresbeginn 1946 in das heimatliche Lübtheen zurückzukehren baten. Nach Erkundung möglicher Zugverbindungen in die SBZ – von verläßlichen Fahrplänen konnte damals noch keine Rede sein – spannte „mein“ Bauer seine mir durch die Arbeit mit ihnen liebgewordenen Braunen an und brachte mich zum nächsten Bahnhof. Über Hannover und die Zonengrenze ging es zunächst nach Magdeburg. Ein Jahr nach meiner Flucht vor den „Russen“ war ich nun also wieder bei ihnen angekommen – mit ängstlichem Gesicht und fragenden Blicken. Als Nachtquartier diente uns Reisenden der Bahnsteig, denn erst am nächsten Morgen sollte der heißersehnte Zug nach Ludwigslust bereitgestellt werden.

Bei der etwa fünfstündigen Fahrt auf der nur 150 km langen Strecke lagen die Leute auf den Dächern, krallten sich an den Türen fest oder standen auf den Einstiegstreppen der Waggons. Einige Kilometer vor der Einfahrt in den Zielbahnhof brach eine Achse des letzten Wagens. Obwohl dieser aus dem Gleis sprang, kam glücklicherweise niemand zu Schaden.

Von Hagenow brachte mich dann tatsächlich ein Zubringerbus der Fa. Schmidt & Laue wie eh und je nach Lübtheen – allerdings fuhr er jetzt mit Holzgas. Je näher wir meinem Heimatort kamen, um so aufgeregter wurde ich. Am Haltepunkt sagte uns der Busfahrer: „Paßt schön auf Euch auf, und lauft den Russen ja nicht in die Arme.“ Was für ein tolles Willkommen in der Heimat!

Mich durchschoß der Gedanke: Ob die wohl wissen, daß ich mal Hitlerjunge war? Alte Befürchtungen, die ich schon im Internierungslager gehabt hatte, kamen wieder hoch.

Doch zunächst überwog die Freude auf das Wiedersehen mit der Familie und Schulkameraden, die vielleicht überlebt hatten. Wie auf der Pirsch ging ich langsam und mit sichernden Blicken durch Lübtheen. Dabei mußte ich das einstige Volks-haus passieren, wo früher Filme gezeigt wurden. Aus geringer Entfernung sah ich, wie plötzlich die großen Türen aufgingen und eine Menschentraube in grauen Mänteln und Pelzmützen – das mir bald vertraute Wort Schapka kannte ich noch nicht – herausquoll. Die Männer bedienten sich gestenreich einer mir fremden Sprache.

Es handelte sich um eine Kompanie der Roten Armee. Wie versteinert blieb ich hinter einem Baum stehen. Das waren sie also – die „Russen“ –, denen man alles erdenklich Schlechte nachsagte und die ich – trotz meiner reinen Weste, denn ich hatte nicht einen einzigen Schuß auf Menschen in Kriegszeiten abgegeben – so sehr fürchtete. Ich vernahm ein lautes Kommando, das Knäuel formierte sich und marschierte laut singend davon.

Bald danach schlossen mich meine Eltern in ihre Arme. Als ich ihnen von dem gerade Erlebten berichtete, konnten sie nur lachen.

Ein Jahr darauf hatte ich sehr viel direkteren „Kontakt“ mit der Sowjetarmee, der weniger lustig war. Man sperrte mich kurzerhand ein. Ich war damals bei einer Transportgemeinschaft (ATG) tätig und wurde der vermeintlichen Nichtbefolgung eines Befehls im Rahmen meiner beruflichen Aufgaben beschuldigt. Eines Tages holten mich zwei Soldaten mit umgehängter MPI im Betrieb ab und befahlen mir mitzukommen. Im Lübtheener Amtsgerichtsgefängnis bezog ich eine der drei dortigen Zellen – ausgerechnet jene, in der auch mein Vater 1932 als Streikführer und Organisator einer Erwerbslosendemonstration gesessen hatte.

Als mich der Towarischtsch Kommandant ins Loch setzte, war ich bereits einige Monate SED-Genosse und lokaler FDJ-Gründer, was der Hauptmann indes nicht wissen konnte. Die Lübtheener Parteigruppe erfuhr sehr bald, wo ich mich befand. Der Parteisekretär und mein Vater, KPD-Mitglied seit 1923 und jetzt im örtlichen SED-Vorstand, versuchten mich freizubekommen. Da das nicht klappte, verständigten sie den gerade im Kreis anwesenden legendären Landtagsabgeordneten Bernhard Quandt. Dieser begab sich unverzüglich zu „meinem Kapitan“, und nach einer Stunde war ich frei. Wie sich herausstellte, hatte die Arretierung auf einem Übersetzungsfehler beruht.

Zurückdenkend könnte ich meine zweite Begegnung mit der Sowjetarmee auch mit den Worten: „Als Genosse bei den Freunden im Knast zu Gast“ überschreiben. Oft habe ich diese Begebenheit erzählt und damit stets Heiterkeit ausgelöst, obwohl mir zum Zeitpunkt des Geschehens gar nicht so heiter zumute war.