RotFuchs 189 – Oktober 2013

Als Nassers Ägypten den Bach runterging

Oberst a. D. Bernd Fischer

Am 6. Oktober 1973 eröffneten die Streitkräfte Ägyptens und Syriens Operationen gegen israelische Stellungen auf seit 1967 okkupierten Territorien beider Staaten. Die ägyptischen Truppen in Stärke von 80 000 Mann überwanden den Suez-Kanal und die Bar-Lev-Linie, die an dessen Ostufer auf Sinai mit einem Aufwand von mehr als 280 Millionen Dollar errichtet und durch Tel Aviv wie Washington für uneinnehmbar gehalten worden war. Die syrischen Einheiten rückten auf den Golanhöhen vor, durchbrachen die israelischen Stellungen und eroberten die Befestigungsanlagen der Okkupanten auf dem strategisch bedeutsamen Berg Hermon sowie das Verwaltungszentrum Kuneitra.

Der Krieg im Oktober 1973 war der vierte seit Gründung des Staates Israel. Er hätte der Auftakt zur Lösung des damals bereits 25 Jahre andauernden Nahostkonflikts sein können, führte aber nur zu einem separaten Friedensschluß Israels mit Ägypten sowie zu Abmachungen zwischen Israel und Jordanien.

Rückblickend ist zu konstatieren, daß sich Ägyptens Präsident Sadat mit diesem „begrenzten Krieg“ vor allem innenpolitisch freie Hand für seinen prowestlichen Kurs geschaffen hat. Mit der vollständigen Tilgung der wichtigsten sozialen und politischen Ergebnisse der unter Präsident Gamal Abdel Nasser eingeleiteten nationaldemokratischen Revolution verwandelten Sadat und dessen Nachfolger Mubarak Ägypten aus der führenden Kraft des Antiimperialismus im Nahen Osten zum wichtigsten arabischen Verbündeten der USA, der zugleich Israels kolonialistisches Besatzungsregime garantierte.

Der Krieg verlief in zwei Phasen: Zuerst demonstrierte er die gewachsene Kampfkraft der ägyptischen und syrischen Streitkräfte, durch die in erster Linie die Israelis, aber auch andere völlig überrascht wurden. Der Mythos von der absoluten militärischen Überlegenheit Israels war zunächst zerstört. Nach einer Phase perfekter Überrumpelung konnten die israelischen Truppen die militärische Initiative vollständig zurückzugewinnen. Die Armeen Ägyptens und Syriens, die den Krieg begonnen hatten, gerieten in Gefahr, zerschlagen zu werden.

Diese Entwicklung war vor allem ein Ergebnis des verräterischen Doppelspiels, das Sadat im Bunde mit Henry Kissinger betrieb. Jordaniens König Hussein stellte 1975 fest: „Sadat hat alle Vorteile, welche die arabische Seite errungen hatte, vollständig verspielt. Anstelle einer Paketlösung der Nahostprobleme, wie sie durch die neue Situation im Oktober 1973 möglich geworden wäre, opferte er alles separat den Amerikanern.“

Sadats bereits damals offensichtlicher Verrat an der angeblich von ihm verfochtenen „gerechten arabischen Sache“ steht außer Frage.

Doch trotz seines antisowjetischen Kurses leistete die UdSSR auf Kairoer Ersuchen massive militärische Unterstützung, ohne welche die arabischen Armeen nicht hätten bestehen können. Die Absicherung der Bevölkerung ägyptischer und syrischer Großstädte gegen israelische Luftangriffe wäre ohne diese Hilfe undenkbar gewesen. Dennoch verfolgte Sadat auch weiterhin seine mit Kissinger abgestimmten moskaufeindlichen Ambitionen unvermindert weiter.

Die durch die militärischen Erfolge der arabischen Streitkräfte in der ersten Kriegsphase entstandenen Möglichkeiten und Ansätze für eine gerechte Friedenslösung im Nahen Osten wurden durch diese Manöver torpediert. Syrien wurde gezwungen, sich einer Waffenruhe zu unterwerfen. Sadat negierte die Bereitschaft zu „arabischer Solidarität“ seitens Jordaniens und Iraks. Die rechtmäßigen Interessen des palästinensischen Volkes wurden mit Füßen getreten.

Sadat und Mubarak sowie die von ihnen repräsentierten Teile der ägyptischen Bourgeoisie und der Beamtenbürokratie suchten den Oktoberkrieg in der Folgezeit zu einem „historischen nationalen Erfolg“ hochzustilisieren. Das lag vorrangig im Interesse des Militärs, aus dem beide Präsidenten hervorgegangen waren und auf dessen Machtpositionen sie sich stützten. Diese blieben auch unangetastet, als das Aufbegehren der Volksmassen und erbitterte Auseinandersetzungen mit beträchtlichem Blutvergießen Ägypten seit 2011 erschütterten. Das Militär beherrscht weiterhin uneingeschränkt das Land am Nil. Es verfügt nicht nur über die zentrale Regierungsgewalt – auch die meisten Gouverneure sind Militärs. Die Armee kontrolliert in beträchtlichem Umfang die Wirtschaft, das Finanz- und das Bildungswesen. Alle kommandierenden Offiziere sind auf die USA ausgerichtet und wurden mehrheitlich auf dortigen Kriegsschulen ausgebildet. Die Streitkräfte sind abhängig von Geld und Waffen aus den Vereinigten Staaten.

Die imposante Erhebung der ägyptischen Massen „für Würde, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ konnte angesichts fehlender Programmatik und infolge von Uneinigkeit unter den Beteiligten immer wieder kanalisiert werden. Die beherrschende Stellung des Militärs wurde nicht angetastet. Diese Dominanz bleibt der Garant für die Sicherung der strategischen Positionen der USA im Nahen Osten.

Die ägyptische Volksbewegung hat indes ihre gewachsene Kraft gespürt. Doch nur, wenn sich die derzeit breitgefächerte, aber auch äußerst zersplitterte linke und nationaldemokratische Opposition über Religionsschranken hinweg auf eine gemeinsame Plattform verständigen könnte, welche die politischen und sozialen Forderungen von Millionen werktätiger und nationalbewußter Ägypter zusammenfaßt, wäre das seit 2011 sichtbar gewordene machtvolle Potential dazu imstande, die Zustände wirklich zu verändern. Ohne eine eindeutig antiimperialistische Ausrichtung wird es den USA, anderen NATO-Staaten und Israel auch weiterhin gelingen, die ägyptischen Bewegungen in ihrem Sinne zu beeinflussen.