RotFuchs 228 – Januar 2017

„Amerikanische Beschäftigungsverhältnisse“

Ulrich Guhl

Nach einer Studie der Techniker-Krankenkasse (TK) werden „Arbeitnehmer“ im Osten deutlich häufiger krank als im Westen. Wurden 2015 Beschäftigte und Empfänger von Arbeitslosengeld I in Baden-Württemberg 11,6 Tage krankgeschrieben, traf es ihre Kollegen in Mecklenburg-Vorpommern mit 17,5 Tagen. Man gibt sich erstaunt: Man habe keine befriedigende Erklärung, sagte eine TK-Sprecherin.

Der Frau kann geholfen werden: Schaut man sich die Arbeitswelt Ostdeutschlands genauer an, kommen einem schon einleuchtende Erklärungen für das scheinbar Unerklärliche in den Sinn. Waren im Jahre 2014 im Westen beispielsweise noch 63 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse tarifgebunden, kam man im Osten auf nicht einmal mehr die Hälfte. Ein gigantischer Billiglohnarbeitsmarkt wurde gezielt geschaffen, um das ohnehin fragile Arbeitsrecht der BRD weiter zu schleifen, Gewerkschaften zahnlos zu machen und die Beschäftigten in eine erbarmungslose Konkurrenz zueinander zu setzen. Die geringe Tarifbindung sorgt dafür, daß in Ostdeutschland Löhne und Gehälter dem Westniveau immer noch um 20 Prozent hinterherhinken, was auch so gewollt ist. Zahlreiche Industrieruinen zeugen noch heute von der wohl größten Orgie der Zerstörung in Friedenszeiten, welche die industrielle Infrastruktur eines Landes je über sich ergehen lassen mußte. Arbeitsplätze sind in Mecklenburg-Vorpommern deutlich knapper als in Baden-Württemberg. Die wenigen Kleinbetriebe können häufig nur schlecht bezahlte Jobs anbieten – eine Folge eben jener Politik, deren Kernziel die Gewinnmaximierung um jeden Preis ist. Immer öfter trifft man auf Menschen, die in „amerikanischen Beschäftigungsverhältnissen“ leben. Die Menschen sind gezwungen, mehrere gering bezahlte Jobs anzunehmen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Im Osten wird allenthalben sichtbar, was die Grundlage der kapitalistischen Wirtschaft bildet – die Degradierung des Menschen zur Ware, die Vermarktung seiner Gesundheit, seiner Gefühle und Hoffnungen.

„Freiheit“ und „Demokratie“ enden im real existierenden Kapitalismus spätestens am Fabriktor – natürlich nur für diejenigen, welche eines durchschreiten dürfen. Die Arbeitswelt, die ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens ist, wird immer mehr brutalisiert. Latente Existenzangst macht Menschen krank und gleichzeitig fügsam. Immer mehr zerbrechen physisch und psychisch an ständiger Überforderung durch Zeithetze, Mobbing und Alltagssorgen. 75 000 Beschäftigte gehen jedes Jahr in Frührente, weil sie dem Druck nicht mehr gewachsen sind. Und es werden von Jahr zu Jahr mehr.

Ich selbst erlebe Tag für Tag die wachsende Entsolidarisierung der Menschen. Wird jemand krank, wird ihm häufig unterstellt, er simuliere nur. Die ohnehin viel zu wenigen Mitarbeiter müssen seine Arbeit miterledigen und machen als Schuldigen den Kranken aus und nicht jene, die für diese Verhältnisse verantwortlich sind. Überstunden werden zur Alltäglichkeit. Kommt jemand auf die kühne Idee, daß Arbeit auch Glück, Befriedigung und Erfüllung mit sich bringen sollte, wird das fast schon als Anmaßung betrachtet. Kaum jemand nimmt noch das Wort „Beruf“ in den Mund. Man spricht vom „Job“ und meint damit eine beliebige Tätigkeit in einer menschenfeindlichen Arbeitswelt, die als notwendiges Übel unseren Alltag begleitet. Das alles ist politisch gewollt, denn ein erschöpfter Mensch wehrt sich nicht. Er geht auf keine Demonstration, er liest kein Buch, das ihm Aufklärung verschafft, und er kann leichter manipuliert werden. Schuld am eigenen Elend ist dann der Ausländer oder der faule Arbeitslose. Die wahren Schuldigen verstehen sich gut zu tarnen.

Die von Marx beschriebene Entfremdung des Menschen durch die Arbeit kommt seit dem Ende der sozialistischen Staaten wieder sehr viel deutlicher zum Tragen als vor 1989. Bedenkt man, daß westliche Gewerkschaften noch in den 80er Jahren ernsthaft über die 35-Stunden-Woche diskutierten, während „Arbeitgeber“-Vertreter heute von der Rente mit 70, dem 10-Stunden-Arbeitstag und ständiger Verfügbarkeit des „Arbeitnehmers“ reden, wird klar, wie sich dieses System mehr und mehr gegen die Menschen richtet. Viele erkennen, daß sie vom Produkt ihrer Arbeit entfremdet werden, weil es ihnen nicht gehört und sie sich auch nicht damit identifizieren können. Sie empfinden sich nicht als Kollegen, sondern als Konkurrenten. Gemeinschaftliches Handeln durch Arbeit als Schöpfungsprozeß wird durch die „Teile und herrsche!“-Politik der Kapitaleigner mehr und mehr unterbunden. Kreativität des Beschäftigten nützt in erster Linie dem Unternehmer, der diese auch wieder nur vermarktet.

Diese Arbeitswelt macht krank.

Ich habe noch eine andere kennengelernt. Sie ist Vergangenheit. Aber sie zeigt mir bis heute, daß eine andere Welt möglich ist. Arbeit kann Berufung sein und glücklich machen. Dafür steht für mich das Wort Sozialismus.