RotFuchs 208 – Mai 2015

Compañera Christa: Für junge und junggebliebene Rotfüchse

Brief an meinen Vater (Teil 1)

Christa Kožik

Es riecht wieder nach Krieg, lieber Vater!

Seit Monaten herrscht eine beschämende Hetze gegen die Russen. Vergessen sind die 27 Millionen Toten der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Putin wird mit Hitler gleichgesetzt, und die Medien forcieren den neuen eiskalten Krieg in Europa.

Es sind Nachtgedanken, die mich diesen Brief schreiben lassen. Vater, Du bist in den Räumen, die mit den Füßen keiner betritt … So lange bist Du schon tot, aus dem Leben gerissen mit 31, im Kriegsjahr 1943. Und ich, Deine damals winzige Kleine, bin jetzt 73 und habe Dich schon 42 Jahre überlebt. Manchmal begegne ich Dir, in den Nächten, wenn ich nicht schlafen kann …, dann höre ich ein Akkordeon … Deine Stimme singt „Über die Prärie klingt ein Lied durch die Nacht …“ Solltet ihr alle umsonst gelitten haben, umsonst gestorben sein? Sollen eure Urenkel wieder in den Krieg ziehen müssen für die Interessen von Globalstrategen und Rüstungsmilliardären, für geheuchelte Freiheit und Demokratie?

Die Angst, die ich als Kriegskind hatte, ist noch immer unter meiner Haut: Die Flucht aus Liegnitz im Januar 1945 mit Mutter und Margot in eisiger Kälte in Güterwagen. Sirenen und Bomben, Verwundete und Tote. Erfrorene auf Bahnhöfen, die wie Bretter geworfen wurden, Hunger, Kälte und Blut. Und Schreie, die wie Glas zersplitterten. Du konntest uns nicht mehr beschützen, Du warst schon tot. Ich hatte immer Sehnsucht nach Dir, nach einer schützenden männlichen Hand. Als ich heranwuchs, trug ich Dein Foto jahrelang in der Schulmappe, bis es ganz zerknittert war. Ein schöner junger Mann mit traurigen Augen und einer roten Blume in der Hand. Was weiß ich von Dir, lieber Vater? Mutter sagt, Du bist nicht in die Nazi-Partei eingetreten, obwohl sie Dich bedrängten. Die braunen Machthaber waren Dir zu brutal. Du warst im Arbeiter-Sportverein unter Gleichgesinnten und spieltest Akkordeon. Die Heine-Werke in rotem Einband hast Du in Ölpapier in eurer Gartenlaube vergraben, erzählte Mutter. Du hattest Dir in der Kaserne einen Posten als Tankwart besorgt, um nicht an der Front töten zu müssen.

Mit achtundzwanzig hast Du Hedwig, eine junge Frau, Verkäuferin mit zwei unehelichen Kindern, eines von einem jüdischen Mann, geheiratet. Das erste Kind hatte Hedwig von einem Zahnarztsohn, der sie schwanger sitzen ließ. Bittere Realität für ein hübsches Mädchen aus armem Haus. Mutter war neunzehn, stand schon auf eigenen Füßen und konnte ihren Jungen ernähren. Der Mann, den sie dann kennenlernte und liebte, war Jude und hieß Joseph Reiner. Als sie wieder ein Kind erwartete, schrieb man mit Kreide „Judenhure“ an ihre Tür. Sie flüchtete hochschwanger mit Joseph Reiner nach Görlitz. Im kleinen Hotel „Preußenhof“ in der Salomonstraße 6 vertrauten sie sich der Wirtin an. Diese half Mutter bei der heimlichen Entbindung im Hotel. Im Oktober kam meine Schwester Margot zur Welt. Die Wirtin, schon eine ältere Frau, gab sie als Verwandte aus, um sie zu schützen. Aber die Görlitzer Gestapo spürte sie nach einer Denunziation im November auf. Im Morgengrauen wurden beide Frauen festgenommen. Mutter kam nach Dresden ins Frauengefängnis. Die Wirtin hatte, bevor die Gestapo eindrang, meine winzige Schwester im Wäschekorb in ein anderes Zimmer gestellt und sie so vor dem Zugriff gerettet.

Im Frauengefängnis Dresden erlebte Hedwig Verhöre, Schläge und Demütigungen. Auf „Rassenschande“ und „volksschädigendes Verhalten“ lautete die Anklage. Und da war auch das „noble“ Angebot zur Freilassung. Sie, eine blonde deutsche Frau, sei doch sicher von dem Judenschwein vergewaltigt worden. Sie brauche das nur im Protokoll zu unterschreiben. Hedwig blieb sich treu und dem, den sie liebte. Joseph Reiner war ins KZ Buchenwald gekommen. Ein entwichener Mithäftling brachte ihr später die Nachricht von seinem Tod. Da hatte sie ein Jahr Frauengefängnis hinter sich und war verstört fürs ganze Leben. Ich weiß nicht, ob sie Dir das alles erzählt hat. Mir hat sie sich offenbart, als „Holocaust“ im Fernsehen lief. Dieser Film hatte bei ihr Schleusen geöffnet. Bis dahin hatte sie das alles verdrängt, vor uns und anderen geheimgehalten. War die Scham, Mutter zweier unehelicher Kinder zu sein, stärker als die Erkenntnis ihrer tapferen stillen Größe? Zu Zeiten der DDR hat sie sich nicht als Verfolgte des Naziregimes gemeldet. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis Ende 1935 suchte sie ihr Kind in Görlitz. Die Wirtin hatte Margot in ein privates Kinderheim gegeben. Sie war jetzt ein Jahr alt – Margot, meine schöne schwarzhaarige Schwester, die sich mit 34 Jahren das Leben nahm. Waren bei ihr in frühester Kindheit Wurzeln zerstört worden? War es die geheimnisvolle Kette des Unglücks, die manchen Tod so rätselhaft macht? Es stimmt wohl, daß man auch ein Schicksal erben kann.

Vater, Du hast Hedwig in Liegnitz kennengelernt, eine vom Leben gezeichnete junge Frau. Eure erste Begegnung hat sie mir so erzählt: Eines Tages kam ein schöner junger Mann ins Warenhaus EHP, wo sie als Verkäuferin in der Besteckabteilung wieder Arbeit hatte.

Der schmale junge Mann kaufte einen Silberlöffel. Am zweiten Tag kam er wieder, um die passende Gabel zu kaufen. Am dritten Tag kaufte er das Messer. Als Mutter fragte, warum er nicht das Besteck auf einmal gekauft hätte, erwiderte er lächelnd, da hätte er sie ja nicht jeden Tag wiedergesehen. Schüchtern hast Du Mutter zum Essen eingeladen, aber sie entzog sich. Du bliebst hartnäckig, bis sie Dich eindringlich bat, sie in Ruhe zu lassen. Um Dich abzuschrecken, erzählte sie von ihren beiden Kindern und ihrer Gefängniszeit. Aber Du machtest ihr bald einen Heiratsantrag. Das war der größte Liebesbeweis. Im September 1940 habt ihr geheiratet. Du hast Hedwig und ihren Kindern Deinen Namen Schmidt gegeben. Das schützte sie und die Kinder. Wenn Du mit der kleinen schwarzhaarigen Margot spazierengingst und die Leute sagten „Ganz der Vater“, hast Du vielleicht leise gelächelt. Du hattest ja auch pechschwarze Haare. Gearbeitet hattest du noch in der Kaserne als Tankwart. Dein jüngerer Bruder Herbert sollte an die Front. Er wollte vorher seine Lisbeth heiraten und bat Dich um einen kleinen Kanister Benzin, für eine Hochzeitsreise auf dem Motorrad nach Breslau. Diese Freude hast Du Deinem Bruder gemacht. Das brachte Dich in die Hände der Geheimen Staatspolizei. Haussuchung, Verhaftung, Verhöre. Denunziert hatte Dich Deine Schwägerin, Mutters Schwester Emma, eine Nazisse. Die Anklage gegen Dich lautete „Heeresguthinterziehung“. Kollegen setzten sich für Dich ein. Du kamst mit einem blauen Auge davon: Das Kriegsgericht verurteilte Dich zu fünf Monaten Gefängnis und Strafversetzung. Dein Bruder Herbert fiel wenige Wochen nach der Kriegstrauung.

Teil 2 folgt in der Juniausgabe.