RotFuchs 191 – Dezember 2013

Das Massaker an der Bernsteinküste

Heinz Behrendt

Auch zur Auffrischung meiner Sprachkenntnisse unternahm ich in den letzten Jahren mehrere Reisen in die Russische Föderation. In diesem September besuchte ich das Kaliningrader Gebiet. Sowohl dessen Hauptstadt als auch die durch ihre Naturschönheit bekannte Bernsteinküste standen auf meinem Programm.

Die Leistungen beim Wiederaufbau der völlig zerstörten Stadt Kaliningrad beeindruckten mich sehr. Sichtbar sind dort jedoch auch die Auswirkungen der unter Gorbatschow und Jelzin eingeleiteten Restauration kapitalistischer Macht- und Eigentumsverhältnisse. Der Kontrast zwischen Armen und Reichen springt ins Auge. Der Raub des Gemeineigentums aus sozialistischen Tagen führte zum Entstehen einer einflußreichen Schicht saturierter Neureicher, die durch vordergründige Prunksucht besonders ins Auge springt. Mafiabanden kontrollieren weitgehend das öffentliche Leben. All das erinnert an das Gebaren der Treuhand.

Zum unvergeßlichen Erlebnis wurde für mich ein Aufenthalt an der landschaftlich reizvollen Bernsteinküste. Dort befindet sich ein beeindruckendes Mahnmal, das ein schreckliches Verbrechen der deutschen Faschisten in den letzten Januartagen des Jahres 1945 ins Gedächtnis ruft. Die Rote Armee war bereits bis zum Frischen Haff vorgestoßen, die „Festung Königsberg“ lag schon in Reichweite ihrer Artillerie, als SS-Männer tausende Arbeitssklaven aus Außenlagern des bei Danzig gelegenen KZ Stutthof, die zum Schanzen eingesetzt waren, auf einem Todesmarsch in Richtung Ostseeküste trieben. Wer nicht mehr laufen konnte, wurde an Ort und Stelle erschossen.

Die meisten Opfer waren jüdische Frauen aus Polen und Ungarn zwischen 18 und 40. Ihre Zahl wird mit über 3000 angegeben. Im damaligen Palmnickel sollten sie lebendig in einem Stollen des dortigen Bernsteinwerkes eingemauert werden. Ein Wirtschaftsleiter, der diesen Massenmord verhindern wollte, wurde durch einen SS-Obersturmführer sofort an die Front geschickt. Nun hatten die Schergen freie Hand. In der Nacht zum 1. Februar jagten sie die wehrlosen Frauen an den Ostseestrand und unter Maschinengewehrfeuer ins eisige Meer. Nicht alle starben sofort, viele wurden nur angeschossen und fanden erst Tage danach einen qualvollen Tod, während andere ertranken oder im Eis erfroren. Der Roten Armee, die wenig später dort eintraf, bot sich ein grauenvoller Anblick.

Die Opfer wurden in einem Massengrab beigesetzt. Zunächst befand sich dort nur ein schlichter Gedenkstein. Später schuf der israelische Bildhauer Frank Meisler ein mehrere Meter hohes Monument. Es zeigt die zum Himmel gereckten Hände der Frauen, die sich am Leben festklammern wollen.

Die SS-Verbrecher setzten sich in Richtung Westen ab. Die Adenauer-Globke-Regierung ließ diese Untat wie viele andere ungesühnt. Keiner der Täter mußte jemals vor Gericht erscheinen.