RotFuchs 189 – Oktober 2013

Der springende Punkt

Klaus Steiniger

Als ich am 9. Mai 1974 auf Lissabons Flughafen Portela aus der Maschine stieg, um als Berichterstatter des ND über das aktuelle Geschehen in Portugal zu informieren, ahnte ich nicht, daß mir die fünf wichtigsten und bewegendsten Jahre meines Lebens bevorstehen sollten. Ich hatte das große Glück, Weggefährte eines der wenigen den Spuren der Pariser Commune folgenden antikapitalistischen Vorstöße in Westeuropa zu sein: der Nelkenrevolution. Sie begann mit dem Sturz der 48 Jahre währenden faschistischen Diktatur Salazars und Caetanos am 25. April 1974 und erreichte im Sommer 1975 ihren Kulminationspunkt. Unter maßgeblicher Mitwirkung der Portugiesischen Kommunistischen Partei des unvergeßlichen Álvaro Cunhal wurden 245 inländische Industrieunternehmen, Banken und Versicherungskonzerne nationalisiert, während das Agrarproletariat des Südens schlagartig 1,2 Millionen Hektar Latifundistenland in Besitz nahm. Daraus gingen 550 ausbeutungsfreie Kollektivgüter hervor, von denen viele auf Jahre bestanden.

Der revolutionäre Prozeß konnte bis an die Grenzen des Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen in eine sozialistische Revolution vorangetrieben werden. Wenn dennoch der gegenläufige konterrevolutionäre Prozeß – bei massiver Einmischung der NATO-Mächte, vor allem der USA und der BRD – am Ende die Oberhand gewann, dann hatte das einen entscheidenden Grund: Die unter Führung einer marxistisch-leninistischen Partei Großes erreichenden Volkskräfte vermochten die Frage der politischen Macht nicht zu ihren Gunsten zu entscheiden. Mit Franco-Spanien – geographisch betrachtet – „im Rücken“, der 6. US-Flotte vor den Küsten und einem Landesnorden, dessen Bevölkerungsmehrheit auch weiterhin faschistisch indoktriniert blieb, reichte die Kraft für den Sieg nicht aus.

Damit der Funke wirklich zündet und die soziale Transformation von Erfolg gekrönt ist, bedarf es eben nicht nur einer revolutionären Situation, sondern auch der Potenz, sie zu nutzen. Versuche ultralinker Revoluzzer, den „Knoten“ auf voluntaristische Art zu durchschlagen, sind da zur Niederlage verurteilt.

Eine revolutionäre Situation besteht aus Sicht unserer Klassiker immer dann, wenn die Herrschenden nicht mehr auf alte Art regieren können, während die Beherrschten ihr Los nicht länger ertragen wollen. Die höchste Steigerungsform einer solchen Situation – sollte es den Machthabern nicht gelingen, sie entlastende Ventile zu ziehen und etwas Dampf aus dem Kessel abzulassen –, bezeichnet man als revolutionäre Krise.

Doch selbst diese führt keineswegs automatisch zur Revolution. Um aus der Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen, bedürfen die kampfbereiten Massen der Führung durch eine zielklare revolutionäre Avantgarde, die sich in entwickelten Ländern aus dem Proletariat und ihnen nahestehenden sozialen Kräften rekrutiert.

Der springende Punkt ist also: Ohne Machteroberung gibt es keine wirkliche Revolution – ohne Führung durch eine von der Wissenschaft des Marxismus-Leninismus ausgehende Partei keine Machteroberung! Da sind die Floskeln gewisser „linker“ Theoretisierer von einer „Transformation im Rahmen des bestehenden Systems“ nichts als Schall und Rauch.

Zu bemerken wäre in diesem Zusammenhang, daß ähnliches – allerdings unter diametral entgegengesetzten Vorzeichen – auch auf konterrevolutionäre Prozesse zutrifft: Sie zielen nicht minder auf politische Machteroberung und bedürfen ebenfalls einer entsprechenden Führung, die allerdings im Auftrag historisch bereits überwunden gewesener Klassenkräfte operiert.

Den Spuren Hitlers, der die von den Faschisten vollzogene Machtsicherung für das Kapital als „nationale Revolution“ ausgab, folgen jene, welche sich erdreisten, die konterrevolutionäre Liquidierung ausbeutungsfreier Gesellschaften als Revolutionen zu bezeichnen. Zur Irreführung der Öffentlichkeit wie auch nicht weniger an diesem fatalen Spiel selbst Beteiligter versahen sie klassische Konterrevolutionen mit dem Etikett „friedlicher Revolutionen“. Da ist von einer „samtenen Revolution“ die Rede, wenn die Zerschlagung des Sozialismus in der ČSSR gemeint ist. Oder man spricht von der „orangenen Revolution“ Julia Timoschenkos – der reichsten Frau der Ukraine, die ihre maßlose Gier sogar in den Knast von Leuten ähnlicher Couleur gebracht hat.

Andererseits bewirken von den Massen getragene revolutionäre Situationen trotz ihres oftmals grandiosen Erscheinungsbildes noch keine tiefgreifenden sozialen und politischen Umwandlungen. Die Medien der Bourgeoisie inflationieren den Begriff der Revolution ganz bewußt, um ihm Schärfe und Kontur zu nehmen.

Erinnert sei hier an die „tunesische Revolution“, die den Auftakt zu einer als „Arabischer Frühling“ bezeichneten Protestwelle gab, und an die beiden „ägyptischen Revolutionen“, die ein imponierendes Bild von der Kühnheit und Widerstandskraft bedeutender Sektoren zweier arabischer Völker vermittelten. Auch der eindrucksvolle Massenprotest in der Türkei gehört in diesen Zusammenhang.

Die erwähnten revolutionären Situationen konnten aus den anfangs genannten Gründen – vorerst – nicht in Revolutionen hinüberwachsen. In Tunesien kamen zu kosmetischen Operationen bereite und zu Zugeständnissen gezwungene, aber am Systemerhalt interessierte gemäßigt islamistische Kräfte ans Ruder. In Ägypten trug das seit Jahrzehnten aus Kassen des Pentagons mit Milliardensummen „subventionierte“ Militär dem Verlangen von Millionen Landesbürgern nach Absetzung Mursis und seiner das geistige Mittelalter verkörpernden Moslembrüder Rechnung, installierte dann jedoch eine Regierung nach dem Geschmack der USA und der NATO. Da dessen Schreckensregiment die Welt schockierte und Kairo international in die Isolierung trieb, könnte sich Washington bei der Finanzierung der ägyptischen Armee interimistisch durch Saudi-Arabien vertreten lassen.

An die wirklich großen Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte wie die Französische Revolution, die Oktoberrevolution in Rußland und die Chinesische Revolution sind natürlich völlig andere Maßstäbe anzulegen.

Als Lenin im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zeitweilig die Redaktion der damals bolschewistischen „Iskra“ leitete, an deren Beispiel sich auch der „RotFuchs“ orientiert, wagte wohl keiner seiner Mitstreiter die kühne Prognose, daß nur ein gutes Jahrzehnt später aus diesem winzigen Funken die Flamme des Roten Oktober schlagen würde. Der aber hat – trotz des späteren Untergangs der UdSSR und der sozialistischen Staaten Europas – die Welt dauerhaft verändert und bleibt einer der Maßstäbe für die Bestimmung der Kriterien zur Umwandlung einer revolutionären Situation in eine siegreiche Revolution.