RotFuchs 235 – August 2017

Geschichte und Geschichten mit Überraschungseffekten

„Die Grenzgänger“ – ein Folk-Phänomen

Jens-Peter Müller

Fünfmal wurden „Die Grenzgänger“ mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet, nun erschien ihre siebte Produktion „Brot & Rosen“ zum Thema „Liebe und ihre Bedingungen im Alltag“ mit Neuentdeckungen aus dem Freiburger Volkslied­archiv sowie erfrischenden Arrangements allseits bekannter Volkslied-Hits. Wer sind „Die Grenzgänger“, und was sind die Bedingungen ihres Erfolgs?

„Die Grenzgänger“

Spannend findet er, daß parallel zum Erscheinen des Albums, auf dem deutschspra­chige Liebeslieder aus sechs Jahrhunderten versammelt sind, der Kinofilm „Der junge Marx“ anläuft. „Marx hat seine Theorien ja aus den Arbeitsbedingungen der Men­schen entwickelt“, führt Zachcial den Gedanken aus. „Und damit hängt natürlich auch zusammen, welche Liebeschancen ein Mensch hat, inwieweit ein Sinn für Schönheit überhaupt entstehen kann. Wenn du vierzehn Stunden in der Fabrik arbeitest mit der Perspektive, daß es gerade mal zum Leben reicht, und du dich wie ein Sklave fühlst, wie steht es dann mit der Entwicklung des Selbstwertgefühls? Unter diesen Gesichts­punkten haben wir uns einige der alten Liebeslieder angeschaut und die Auswahl für die CD getroffen.“

Seit über dreißig Jahren lebt der in Duisburg geborene Musiker und Liedermacher in Bremen. Dort lernte er die drei weiteren Mitglieder der aktuellen „Grenzgänger“-Be­setzung kennen. Die Bandbreite der Erfahrungen in zeitgenössischer E-Musik, Gypsy Swing und Heavy Metal, die Cellistin Annette Rettich, Akkordeonist Felix Kroll und der aus einer kroatischen Familie stammende Gitarrist Frederik Drobnjaks einbringen, macht die Konzerte und Alben auch zu einem großen musikalischen Erlebnis. „Mir macht es einfach Freude, zwei-, drei-, vierhundert Jahre alte Lieder auszuwählen und sie so zu spielen, daß man nicht mehr darüber nachdenkt, wie alt sie sind, sondern sie mit der heutigen Wirklichkeit in Verbindung bringt“, sagt Zachcial. Diese musika­lischen Qualitäten sind mit ein Grund, weshalb „Die Grenzgänger“ als eine der weni­gen deutschen Folkgruppen auch schon mit Erfolg im Ausland aufgetreten sind, etwa in Irland, Norwegen und Schweden. Für die Aufnahmen von „Brot & Rosen“ hat die Gruppe zudem Cynthia Nickschas als Gastsängerin gewinnen können.

Grenzgänger: und weil der MENSCH ein MENSCH ist

In den aufwendigen Booklets der Alben, die Zachcial bisher im Eigenverlag herausbringt, werden die umfangreichen Recherche-Aktivitäten und deren oftmals erstaunlichen Ergebnisse doku­mentiert.

Die wichtigste Fundgrube war und ist für Zach­cial das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg, das vor drei Jahren im „Zentrum für populäre Kultur und Musik“ aufgegangen ist. Für ihr Pro­gramm zum hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs mit dem Titel „Maikäfer flieg – Verschollene Lieder 1914–1918“ sichteten „Die Grenzgänger“ über 14 000 Gedichte und stöberten in Pappkartons nach Postkarten, auf denen Sol­daten auf dem Feld ihre Lieder oder Liedumdichtungen notiert hatten.

„Unsere Arbeit ist auch eine Art Gegengewicht zu den Bestrebungen der rechten Seite, den Heimatbegriff zu okkupieren“, stellt Zachcial fest und verweist auf aktuelle Tendenzen bei der AfD, sich als Hüter der Heimat aufzuspielen. „Im Grunde geht es mir darum, den Begriff ‚Heimat‘ zu entzaubern, aus der Verklärung herauszuholen und ihn in gewisser Weise zu erden.“ Anhand der Lieder und bestimmter Traditionen kön­nen wir fragen: Welche Heimat meint ihr denn?“ Bei der schwierigen Definition befin­det er sich auf einer Ebene mit Ernst Bloch oder Kurt Tucholsky. Für Tucholsky war Heimat nicht an nationale Grenzen gebunden und ein Konzept, das im eindeutigen Gegensatz zum Begriff „Vaterland“ steht. Ernst Bloch schreibt in seinem Buch „Das Prinzip Hoffnung“: „Heimat ist etwas, was uns allen in die Kindheit scheint, wo aber noch niemand war.“ Insofern läßt sich Heimat als Prozeß verstehen, der mit einer Suche nach und einer Vision von etwas Schönem verbunden ist. Für Michael Zachcial ist das neben der Schönheit der Natur eine „Ästhetik der Menschlichkeit“, wie er sie nennt. Seit 1996 betreibt er neben den CD-Produktionen die Webseite www.volkslied­archiv.de

Die Grenzgänger: BROT & ROSEN

In Hoch-Zeiten kommt diese ambitionierte Plattform auf 1500 Klicks pro Tag. Auf ihr finden sich etwa Brechts „Kälbermarsch“ oder das „Grenzgänger“-Album „Und weil der Mensch ein Mensch ist“ mit Liedern aus dem Widerstand gegen die NS-Diktatur und aus den Gefängnissen und Lagern des Hitler-Regimes.

Michael Zachcial ist froh, daß jetzt nach diesem schwierigen Programm und trotz aller Lebenskraft, die die Lieder aus den Lagern vermitteln, sowie den Konzerten zum Ersten Weltkrieg ihn und seine Band mit „Brot & Rosen“ ein mit weniger Leid verbundenes Repertoire begleiten wird.

Gekürzt aus „Folker“ 5/2017

Die nächste „Grenzgänger“-CD mit Liedern von Georg Herwegh ist kurz vor der Fertigstellung. Wer schon mal reinhören möchte, kann das hier tun.