RotFuchs 199 – August 2014

Compañera Christa: Für junge und jung gebliebene RotFüchse

Die Kinder zuerst …

Christa Kožik

Mit dem RF 199 nimmt eine weitere bekannte DDR-Schriftstellerin – Nationalpreisträgerin Christa Kožik aus Potsdam – ihre ständige Mitarbeit an unserer Zeitschrift auf. Die populäre Dichterin (Tausendunddritte Nacht) und Autorin einer breiten Palette von Kinderliteratur und Filmszenarien für ganz junge Zuschauer wird sich auch beim „RotFuchs“ ihrem Lieblingspublikum nicht verweigern. Sie will zugleich den Nerv etwas älterer Leser treffen.

„Kinder sind glücklich. Sie sehen die Welt noch mit drei Augen. Das dritte Auge gibt ihnen den bunten Blick“, stellte Compañera Christa, wie sie sich Freunden gegenüber gern zu erkennen gibt, in ihrem Buch „Moritz in der Litfaßsäule“ fest.

Unsere literarisch vielseitige, 1991 mit dem Kinderbuchpreis der Akademie der Künste Berlin ausgezeichnete und nach wie vor putzmuntere neue Autorin hat unzählige kleine oder ganz junge Leser und Zuschauer mit Büchern wie „Der verzauberte Einbrecher“, „Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“, „Kicki und der König“, „Philipp und der Katzentiger“, „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“, in gleicher Weise aber auch mit neun Spielfilmen in ihren Bann gezogen. Ihre Filme – Philipp der Kleine / Ein Schneemann für Afrika / Sieben Sommersprossen / Trompeten-Anton / Moritz in der Litfaßsäule / Hälfte des Lebens / Gritta von Rattenzuhausbeiuns / Grüne Hochzeit / Der verzauberte Einbrecher – sind vielen in bester Erinnerung und können auch heute mit Vergnügen und Gewinn gesehen werden.

In Artikel 9 der UNO-Deklaration zum Schutze der Kinder heißt es: „Das Kind hat ein Recht auf Schutz vor Grausamkeit.“ Das bezieht sich nach meiner Lesart auch auf geistige Bereiche. Doch der Schutzraum Kindheit, der erst im 19. und 20. Jahrhundert durch verantwortungsvolle Pädagogen errichtet wurde, geht zunehmend verloren.

Der Medienwissenschaftler Neil Postman hat schon vor 20 Jahren in seinem Buch „Das Verschwinden der Kindheit“ diesen schmerzlichen Prozeß beschrieben, den Kindern durch verantwortungslose Medien und Werbestrategien, durch Drogen und Alkohol die Kindheit zu verkürzen.

Wenn eine Katastrophe droht, sagt man, die Kinder seien zuerst zu retten. Unsere Welt ist kein sinkendes Schiff, aber sie ist bedroht wie nie. Die Menschheit ist nicht nur ökologisch, sondern auch moralisch an eine Grenze geraten. Ethische Werte im Sinne von humanistischen Leitbildern werden kaum noch vermittelt. Solidarität zu üben und im Glück anderer Menschen auch das eigene zu finden – das waren Werte der Vergangenheit, im Sozialismus. Jetzt regiert die eiskalte Macht des Geldes, während die Macht der Medien die Köpfe der Menschen manipuliert. Als Leitbilder gelten harte brutale Einzelkämpfer, cool, immer fit, voll Power und schwer bewaffnet. Schwäche zeigt man nicht, das macht angreifbar. Wer sich ergibt, wird nicht geschont, sondern erst recht geschlagen. Am besten zeigt man sich immer cool, denn an der Wärme könnte man scheitern. Wie sehr würde „Der kleine Prinz“ in unserer Welt frieren!

So könnten Worte wie Liebe, Güte, Zärtlichkeit und Barmherzigkeit eines Tages aussterben, und wir merken es nicht …

Von klein auf lernen Kinder und Jugendliche durch Medien und Werbung ihre Hauptaufgabe, fleißige Konsumenten zu sein. Sie sollen essen, trinken, sich anziehen, anschauen und kaufen, kaufen, kaufen, was ihnen suggeriert wird. Wie schwer haben es Eltern, Lehrer und verantwortungsvolle Erwachsene, dem entgegenzuwirken. Es ist Schwerstarbeit!

Denn die Sprache der Gewalt im Fernsehen, im Kino und im Internet wird Jahr für Jahr brutaler. Die Schamgrenzen sind in den letzten 25 Jahren auf ein Maß gesunken, das einem Angst macht. Brutale Krimis täglich auf fast allen Sendern sind zur Normalität geworden. Und so sinkt das Unrechtsbewußtsein bei Kindern und Jugendlichen. Das Böse, das Brutale, das Dumpfe darf triumphieren: Wenn der gefühlskalte, brutale Held gewinnt, will ich auch nicht anders sein. Und so sinkt das Unrechtsbewußtsein bei Kindern und Jugendlichen, erzeugt es Nachahmungsbedürfnisse.

Wachsende Gewalt zeigt sich schon bei den Kleinen im Kindergarten, denn in den gängigen Trickfilmen ab 6 Uhr früh darf fröhlich das Blut spritzen. Und es gibt ein Phänomen, das uns erschüttert: Jugendliche Mörder werden immer jünger. Viele Lehrer sind total überfordert, und Eltern tragen soziale Konflikte der wachsenden Armut auf dem Rücken der Schwächeren aus. Und das sind die Kinder. Die Kinder zuerst … Wer da noch den ursächlichen Zusammenhang zwischen Gewalt und Perversion in den Medien und der Realität leugnet, ist entweder blind oder gekauft.

Als Gegenargument benutzt man die These, die Realität sei eben so grausam. Ja, sie ist es, leider. Weitgehend ungeschützt erleben Kinder in allen Teilen der Welt Kriege, Hunger, Elend, sexuellen Mißbrauch oder sind Langzeitopfer von Atomversuchen- und Katastrophen.

Die ungerechte Verteilung von privatem Reichtum allein in Deutschland – 2381 Milliarden bei Milliardären, 892 000 Millionen bei Millionären (2012) – hat Formen angenommen, die das Vorstellungsvermögen überschreiten. Dagegen wächst die Kinderarmut beständig. Immer mehr Kinder wachsen in Arbeitslosenfamilien auf, oft schon in zweiter Generation.

Haben Milliardäre und Millionäre kein schlechtes Gewissen? Können sie nicht erkennen, daß Kinder das Kostbarste sind, was eine Gesellschaft besitzt? Saatfrüchte, die nicht vermahlen werden dürfen. Bundespräsident Gauck ruft zu mehr Engagement Deutschlands auf Kriegsschauplätzen in der Welt auf. Die Rüstungsmilliardäre freuen sich gewiß. Aber sollte der christliche Herr Gauck sich nicht besser an die Spitze einer Initiative gegen die Kinderarmut in Deutschland stellen? Sollte er nicht die Bibel besser lesen, wo doch steht, daß eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß ein Reicher in den Himmel kommt?

Gibt es einen Weg aus dem Teufelskreis? Wohl kaum. Dennoch müssen wir Kindern und Jugendlichen immer die Hoffnung vermitteln, daß die Vernunft der Menschheit am Ende stärker ist – wie im Märchen. Ja, auch Märchen sind grausam, aber am Ende siegt das Gute. Das uralte Menschheitsprinzip Hoffnung scheint am Anfang unseres 21. Jahrhunderts auf den Kopf gestellt, wenn das brutale Prinzip siegt.

Eine Gesellschaft, in der die negative Ethik dominiert, ist zum Untergang verurteilt. Sie läßt zu, daß das Kostbarste, was sie besitzt, ihre Kinder, zusehends verrohen. Eine heile Welt gab es nie. Aber immer gab es die Vision von ihr. Diese Vision müssen wir erhalten, damit junge Menschen sie weitergeben können. Sonst kommt die Welt an ihr Ende.