RotFuchs 234 – Juli 2017

Die letzten Wochen vor
der Oktoberrevolution (Teil 3)

RotFuchs-Redaktion

1. Juli 1917: „Brot, Frieden, Freiheit!“

Etwa 500 000 Menschen demonstrierten an diesem Tag durch die damalige russische Hauptstadt Petrograd. Die bürgerliche Provisorische Regierung, die eine Demonstra­tion von Lenins Partei, den Bolschewiki, verboten hatte, rief selbst zur 1.-Juli-Demon­stration auf. Ihr Hintergedanke war, damit die am selben Tag an der Front begonnene Offensive zu begrüßen und zu unterstützen. Doch diese Absicht schlug fehl, immer mehr Menschen lehnten die Fortsetzung des Krieges ab. Die Teilnehmer der Demon­stration legten auf dem Marsfeld Kränze an den Gräbern der Opfer der Februarrevo­lution nieder und führten Losungen mit sich, die den Forderungen der Bolschewiki entsprachen: „Alle Macht den Sowjets!“, „Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern!“, „Brot, Frieden, Freiheit!“

Mit denselben Forderungen finden Demonstrationen in Moskau, Minsk, Iwanowo-Wosnessensk, Charkow, Twer und anderen Städten statt. Die Demonstrationen zeigten, daß „eine Krise von unerhörtem Ausmaß“ (Lenin) über Rußland hereinge­brochen ist. Die ungenügend vorbereitete, gegen den Willen breiter Teile des Volkes begonnene Offensive der russischen Armee an der Front scheiterte bereits nach zehn Tagen.

Zehntausende Soldaten waren eingesetzt worden. In zehn Tagen, seit dem Beginn der Offensive am 1. Juli, gab es an der Südwestfront 60 000 Tote und Verwundete. Im Verlauf des Rückzuges, der bis zum 15. Juli andauerte, wurden große Gebiete verlo­ren, die vor Beginn der Offensive von russischen Truppen besetzt waren.

An der Front und im ganzen Lande verstärkten sich die Antikriegsstimmung und der Haß gegen die Provisorische Regierung. Das widerspiegelte sich auch in Soldaten­briefen von der Front. In einem solchen Brief aus diesen Tagen, der an Kerenski – zu diesem Zeitpunkt Kriegs- und Marineminister der Provisorischen Regierung – gerich­tet war, hieß es: „Jetzt bitten Sie darum, daß wir zugunsten der Kapitalisten, der Gutsbesitzer Englands und Frankreichs wie auch Rußlands angreifen. Nein, Herr Minister, Sie irren sich sehr: Jetzt verweigern wir die Offensive und wollen nicht für fremde Ziele bluten ... Sie sollen es wissen, daß wir nun kein Vertrauen zu Ihnen haben, well Sie zum Verräter am ganzen Volk geworden sind.“ Ganze Regimenter weigerten sich, an der Fortsetzung des Krieges teilzunehmen. Eine Versammlung der Matrosen des Schlachtschiffes „Republika“ beschloß: „Wir betrachten die gegen­wärtige Offensive nicht als eine strategische, sondern als eine politische, konter­revolutionäre Offensive, die ein Dolchstoß in den Rücken der gesamten Demokratie gewesen ist.“

In Garnisonsstädten forderten Arbeiter und Soldaten auf gemeinsamen Meetings Frieden, die Übergabe der ganzen Macht an die Sowjets und die Demobilisierung der Armee-Einheiten.

Die Krise spitzte sich weiter zu

Die politische Krise in Rußland spitzte sich immer mehr zu. Ursache war die geschei­terte Offensive der russischen Truppen an der Front. Angesichts der ungeheuren Opfer, des Hungers und Massenelends trieb die Stimmung der Arbeiter und Soldaten gegen die bürgerliche Provisorische Regierung dem Siedepunkt zu. Immer lauter wurde die Forderung, den Sowjets die gesamte politische Macht zu übertragen.

Mittelpunkt der revolutionären Bewegung war die Hauptstadt Petrograd. Am Abend des 16. Juli gingen dort mehrere Regimenter auf die Straße. Sie standen unter dem Einfluß von Anarchisten und riefen zu bewaffneten Aktionen auf. Die Arbeiter zahl­reicher Fabriken schlossen sich der Demonstration an und forderten „Nieder mit der Provisorischen Regierung!“, „Alle Macht den Sowjets der Arbeiter- und Soldaten­deputierten!“ Die Bolschewiki unter der Führung Lenins standen vor einer kompli­zierten Aufgabe. Einerseits erkannten sie, daß ein Aufstand zu diesem Zeitpunkt zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, da die Arbeiter und Soldaten Petrograds keine ausreichende Unterstützung aus den übrigen Landesteilen erhalten hätten. Immer noch verfügten die kleinbürgerlichen Parteien der Menschewiki und Sozialrevolu­tionäre über eine Mehrheit in den Sowjets. Andererseits zeigten aber die Ereignisse am 16. Juli, daß die Aktionen in Petrograd nicht mehr aufzuhalten waren. Darum beschlossen die Bolschewiki, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, um bewaffnete Auseinandersetzungen und damit eine blutige Niederlage der Arbeiter und Soldaten zu verhindern. Sie riefen darum für den folgenden Tag zu einer fried­lichen Demonstration unter der Losung „Alle Macht den Sowjets!“ auf. 500 000 Arbeiter und Soldaten zogen am 17. Juli unter dieser Losung durch Petrograd. In einer kurzen Ansprache mahnte sie Lenin zur Geduld. Anschließend marschierten sie zum Taurischen Palast, wo zur selben Stunde die Führung der Sowjets gemeinsam mit Delegierten aus den Betrieben und Truppenteilen der Stadt tagte. Die Arbeiter­vertreter forderten die menschewistischen und sozialrevolutionären Führer der Sowjets auf, unverzüglich alles zu tun, um den Sowjets die ganze politische Macht zu übertragen.

Doch die beharrten auf ihrer Unterstützung der bürgerlichen Provisorischen Regie­rung und lehnten die Forderungen ab. Kurze Zeit später billigten sie den Einsatz regierungstreuer Truppen gegen die demonstrierenden Arbeiter und Soldaten. Damit hatten sie sich vollständig von der revolutionären Bewegung getrennt und auf die Seite der Bourgeoisie gestellt.

Reaktionäre Offiziersschüler und Kosaken eröffneten das Feuer auf die Demonstran­ten. 56 Personen wurden getötet, 650 verletzt. Damit hatte die Bourgeoisie ihre Offensive gegen die revolutionäre Volksbewegung begonnen, um die Macht nun vollständig an sich zu reißen. In den folgenden Tagen wurden regierungstreue Truppen von der Front nach Petrograd beordert, mit deren Hilfe die Arbeiter entwaff­net und revolutionäre Truppenteile aufgelöst wurden. Über die russische Hauptstadt wurde der Ausnahmezustand verhängt.

Der besondere Haß der bürgerlichen Provisorischen Regierung richtete sich gegen die Bolschewiki. Am 18. Juli überfielen sie die Druckerei und Redaktion der „Prawda“ und verwüsteten sie. Einen Tag später wurde ein Haftbefehl gegen Lenin erlassen, der somit gezwungen war, erneut in die Illegalität zu gehen.

Vorläufiger Sieg der Bourgeoisie

Die Bourgeoisie hielt die Zeit für reif, um eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbei­zuführen. Sie bediente sich dabei der Dienste der kleinbürgerlichen Menschewiki und Sozialrevolutionäre. So trat der Sozialrevolutionär Kerenski die Nachfolge des Minis­terpräsidenten Lwow an und übernahm am 21. Juli 1917 die Regierungsführung. Sein Programm bestand in der Fortsetzung des imperialistischen Krieges und in der Bekämpfung der revolutionären Arbeiter und Soldaten.

Lenin, der trotz seiner Illegalität den Kampf an der Spitze der Bolschewiki fortsetzte, zog aus den Juli-Ereignissen einschneidende Schlußfolgerungen für die weitere Entwicklung der Revolution in Rußland. Er stellte in seinen Thesen „Die politische Lage“ vom 23. Juli fest, daß sich die Konterrevolution ganz der Staatsmacht bemächtigt habe, weil die Menschewiki und Sozialrevolutionäre dies zugelassen hatten. Die Sowjets, in denen diese Kräfte noch immer die Mehrheit besaßen, seien somit zum Anhängsel der Provisorischen Regierung geworden. Aus diesem Grunde sei die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ im gegebenen Augenblick falsch, und er schlug vor, sie zurückzuziehen.

Damit war die Periode der Doppelherrschaft zwischen der Bourgeoisie und den Sowjets beendet. Die Juli-Ereignisse hatten die Lage vollständig verändert. Von einer friedlichen Entwicklung der Revolution konnte nicht mehr ausgegangen werden. Lenin formulierte es so: „Entweder voller Sieg der Militärdiktatur oder Sieg des bewaffneten Aufstands der Arbeiter, was nur möglich ist, wenn dieser Aufstand mit einer machtvollen Erhebung der Massen gegen die Regierung und gegen die Bourgeo­isie zusammenfällt.“ In der Entwicklung der Revolution war eine neue Etappe angebrochen.

Gestützt auf „UZ“