RotFuchs 235 – August 2017

Die Linke in Brasilien, ein breiter Strom

Peter Steiniger

So vielgestaltig wie das größte Land Lateinamerikas mit mehr als 200 Millionen Einwohnern verschiedener Ethnien und Kulturen sind auch dessen progressive politische Kräfte. Häufig bündeln die Organisationen der Linken eine große Band­breite weltanschaulicher Positionen und auch spiritueller Richtungen. Ihre Stärke und die Bedingungen, unter denen sie wirken, unterscheiden sich regional deutlich. Die sozioökonomische Situation und die Kampfbedingungen etwa im riesigen agrari­schen Hinterland und in den städtischen Ballungsgebieten an den Küsten Brasiliens sind anders gelagert. Allerdings lebt hier die große Mehrheit der Bevölkerung. Die historisch gewachsenen Disparitäten zwischen São Paulo, dem größten Wirtschafts-, Finanz- und Handelszentrum des Kontinents mit dem die Metropole umlagernden ABC-Industriegürtel, und dem rückständig gehaltenen Nordosten sind nach wie vor erheblich. Überwiegend afrobrasilianisch geprägten Landesteilen wie dem Bundes­staat Bahia steht ein weiß dominierter Süden gegenüber, den auch die Nachfahren italienischer, spanischer und deutscher Einwanderer prägen.

Für alle Himmelsrichtungen des gewaltigen Landes gilt, daß seine Geschichte einer brutalen Kolonialisierung und die Sklavenhalterepoche bis ins Heute ausstrahlt. Der Gegensatz von „Herrenhaus und Sklavenhütte“, mit dem der Soziologe Gilberto Freyre vor Jahrzehnten die brasilianische Gesellschaft charakterisierte, wirkt in das Denken der Beherrschten und speist den brutalen Dünkel, mit dem sich eine kleine reiche Elite von Oligarchen als Eigentümer Brasiliens aufführt. Eine Haltung, die große Teile der Mittelklassen und gesellschaftliche Aufsteiger nachahmen. Konservative sind häufig mit Reaktionären gleichzusetzen, aufgeklärtes liberales Bürgertum ist rar gesät. Kein Wunder also, daß sich gerade Sprößlinge aus dieser Klasse immer wieder radikalisierten, daß aus ihr viele Denker und Anführer der Linken hervorgingen.

Eine Ausnahme von dieser Regel bildet Luiz Inácio Lula da Silva, der aus ärmlichsten Verhältnissen und noch dazu aus dem Nordosten stammt. 2003 zog der frühere Schuhputzer, Dienstbote, Metallarbeiter und Gewerkschafter in den Präsidentschafts­palast in Brasília ein, um acht Jahre lang das für die Bevölkerungsmehrheit und das internationale Ansehen seines Landes hellste Kapitel zu schreiben. Für die Eliten ist Lula, wie er in Brasilien nur genannt wird, ein Emporkömmling, den sie mit glühendem Haß verfolgen. Zumal er in Umfragen bei Präsidentschaftswahlen 2018 klarer Favorit wäre.

In diesen legt nun auch die von ihm 1980 noch unter der zivil-militärischen Diktatur mitgegründete Arbeiterpartei (PT) wieder deutlich zu. Aus dem Tief, in das sie nach dem Sturz der von ihr geführten Regierung von Dilma Rousseff durch einen parlamen­tarischen Putsch im vergangenen Jahr gerutscht war, ist die größte linke Partei Lateinamerikas heraus. Im Unterschied zu vielen anderen Parteien Brasiliens, deren Etiketten bedeutungslos sind, ist sie eine Programmpartei – mit diversen Flügeln. Sie wird hier meist sozialdemokratisch eingeordnet, ist allerdings antiimperialistisch und hat auch nach links wenig Berührungsängste, etwa nach Kuba. Ihre Wurzeln hat sie in den Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und kirchlichen Basisgemeinden. Diesen hat sie sich neu angenähert, nachdem sie lange auf Lösungen „von oben“ setzte. Ob dieser Pakt von Dauer ist, hängt davon ab, ob die PT künftig an einer prinzipienfesten Bündnispolitik festhält. Eine Reihe weiterer, kleinerer Parteien sind dem linken Spek­trum zuzuordnen, wie die von PT-Dissidenten gegründete, basisdemokratisch verfaß­te Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL), die sich weiter im Aufschwung befindet. Von den kommunistischen Parteien landesweit von Bedeutung ist die betont patrio­tische PCdoB, ein treuer Alliierter der PT. Guerillakampf, Parteienunterwanderung und ein Zickzack durch alle Wirren der Weltbewegung sind Teil ihrer Biographie im 20. Jahrhundert.

Für die Alltagskämpfe ist eine Vielzahl lokaler Initiativen, kirchlicher Zusammen­schlüs­se und sozialer Bewegungen – wie die der Landlosen (MST) und die in den Favelas verwurzelte MTST – bedeutsam. Gegen den gesellschaftlichen Rückschritt und die wachsende Repression kämpfen Frauengruppen und Organisationen der Afrobrasilianer. Bei der Verteidigung der sozialen Rechte geht die Gewerkschafts­zentrale CUT voran. In der ersten Reihe stehen Jugendorganisationen wie Levante Popular und die Ocupa-Bewegung von Schülern und Studenten.