RotFuchs 235 – August 2017

Die Stunde der Demagogen
und der subjektive Faktor

Jobst-Heinrich Müller

Nach den Wahlniederlagen im Saarland und in Schleswig-Holstein erklärte der SPD-Schönredner Martin Schulz, seine in der historischen Arbeiterbewegung verwurzelte Partei habe immer schon begriffen, daß soziale Gerechtigkeit nur mit einer florieren­den (kapitalistischen!) Wirtschaft möglich sei. Mit ihrer Sozialpartnerschaftsideo­logie tragen europäische Sozialdemokraten ein gerüttelt Maß an Verantwortung dafür, das politische Klassenbewußtsein der arbeitenden Menschen zu untergraben. Nach Jahrzehnten der Fordismus- und Konsum-Propaganda traf der vom Kapital forcierte Kurs in Richtung Neoliberalismus und Globalisierung die Bürger unvorbe­reitet und schockierend. Erlebt wird die Verarmung der einen und wachsender Reich­tum der anderen bei prosperierender Wirtschaft.

Die gebetsmühlenartigen Wahlversprechen, alles würde wieder besser werden, wenn man nur folgsam den Parteiprogrammen vertraue, erwiesen sich als hohle Phrasen, an die jetzt kaum noch jemand glaubt. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust trifft beson­ders linke Parteien in Regierungsverantwortung, wie die jüngste Vergangenheit zeigt. Verlustängste und Bedrängnisse des rasanten gesellschaftlichen Wandels führen über die Erinnerung an etwas bessere und konstantere Lebensbedingungen zu dem Wunsch, das Vergangene zurückzuerlangen. Das begünstigt die Realitätsflucht in reaktionäre, also rückwärtsgewandte Hoffnungen.

Die durch die Entwicklung der technisch-wissenschaftlichen Produktivkräfte bewirk­ten global-wirtschaftlichen und strukturellen gesellschaftlichen Umwälzungen sind jedoch an ihrer Basis irreversibel. Reaktionäre Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle wie die nationalchauvinistische Volksgemeinschaft oder das mittelalterliche Kalifat bieten den ausgebeuteten Werktätigen und unterdrückten Völkern keine Zukunfts­chancen, sondern verschärfen nur weltweit deren Lage.

In dieser Krisenlage gerät auch das parlamentarische Modell bürgerlicher Herrschaft in Turbulenzen. Bisher erfolgreich als Sachwalter und Mittler der Kapitalinteressen untereinander konkurrierende Parteien sehen sich plötzlich ultrareaktionären oder populistischen Kontrahenten gegenüber, die zunehmenden Anklang bei einem Teil der Wähler und Wohlwollen in einigen Wirtschaftskreisen finden. Wenn die Parolen und politischen Inhalte der „Altparteien“ sich zunehmend angleichen, dann verlieren sie ihre profilbildende Bedeutung. Die Praxis zeigt, daß das besonders auch linke Kräfte betrifft, die dann von Protestwählern zum etablierten Spektrum ohne Veränderungs­potential gezählt werden. Gleichzeitig steigt die Bedeutung von Personen und deren „Charisma“ im Wahlkampf. Zumal die Widersprüche hinter den zahllosen gesell­schaftspolitischen Problemen den Wählern zu komplex, schwer durchschaubar und vor allem kaum lösbar erscheinen. Nach jahrzehntelanger konsumorientierter Vernebelung und Individualisierung in der Ellenbogengesellschaft herrscht in der Bevölkerung Subjektivismus vor: eine theoretische und praktische Haltung, die das Individuum und seine Aktivität verabsolutiert und dadurch die objektive Beschaffen­heit und Gesetzmäßigkeit der materiellen Welt teilweise oder völlig ignoriert. Das führt zur Verzerrung und Mißachtung der objektiven Wahrheit, zu unbegründeten Urteilen, Willkür und Voluntarismus und endet zwangsläufig mit Mißerfolgen. Es macht anfällig für „einfache Lösungen“ wie Sündenbock- und Verschwörungs­theorien, „Fake-News“ und Irrationalismus. Der gewiefte Banker und erfolgreiche Demagoge der Einigkeitsbewegung „France en Marche“, Macron, eröffnete vor seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ein schier unglaubliches „Wunderhorn“ an Verheißungen: Sowohl den rassistischen Le-Pen-Wählern als auch den sozialisti­schen Anhängern Melanchons würde er künftig all ihre berechtigten Gründe zu Besorgnis und Unzufriedenheit gegenstandslos machen, denn er wäre „weder rechts noch links“. Dafür feierte man ihn als den „jüngsten Staatschef seit Napoleon“ und den „Retter Europas“. Das hörten wir schon nach dem knappen Wahlsieg von Ruttes VVD in den Niederlanden, der die Parolen der Wilders-Bande übernommen und zuvor das Sozialsystem ruiniert hatte. Die Sozialdemokratie hatte in der Koalition seit 2010 daran tüchtig mitgewirkt und liegt nun mit 9,2 % am Boden zerstört. Die kontinuier­lichen Stimmenzuwächse faschistoider Parteien konnten aber beide nicht stoppen, denn sie selbst machten rechte Politik inhaltlich zur eigenen Sache und die Originale damit salonfähig. Und in Deutschland? Ursula von der Leyen war auf der Wahlkampf-Tournee „CDU im Dialog – Meine Idee für Deutschland“. Themenbogen: „Sicherheits­politische Maßnahmen“ gegen Alltagskriminalität, Mißachtung der Obrigkeit, politi­sche „Gefährder“, Asylmißbrauch und Flüchtlingsflut bis hin zu den „Friedensmissio­nen“, zur Verteidigung unserer „Wertegemeinschaft“ gegen Islamisten, mordgierige Tyrannen, terroristische linke Kurden und den kriegslüsternen russischen Erbfeind Putin. Sigmar Gabriel empörte sich unlängst: „Nicht einmal während der Militärdik­tatur wäre jemand auf die Idee gekommen, (deswegen) den Ausschluß der Türkei aus der NATO zu fordern!“ Und de Mazières Katalog „Deutsche Leitkultur“ enthält be­kanntlich den Satz: „Wir sind nicht Burka!“ – „Wir sind nicht Nazi“ würde wohl abzuwerbende AfD-Wähler vergrämen?