RotFuchs 217 – Februar 2016

In was für einem Land lebe ich eigentlich?

Ein Arbeiter stellt Vergleiche an

Peter Müller

Im Ahlener Programm der CDU vom 3. Februar 1947 konnte man lesen: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben sein. …“

Was ist daraus geworden, und wo stehen wir heute? Jahrgang 1941, habe ich nach dem Krieg in einem Land gelebt, das angeblich eine „SED-Diktatur“ war, in der „Stasi“, „Stacheldraht“ und „Schießbefehl“ niemals fehlten – jedenfalls nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Herren Hubertus Knabe und Prof. Dr. Klaus Schröder.

Ich aber habe in diesem Land DDR eine allseitige und umfassende Bildung erhalten und konnte einen Beruf erlernen und ausüben, der meinem Wunsch und meinen Fähigkeiten entsprach.

Ich habe in einem Land gelebt, das sich der Verwirklichung der sozialen Rechte aller und vor allem der Sicherung des Friedens verpflichtet hatte.

Ich habe in einem Land gelebt, in dem meine Kinder eine kostenlose und solide Schulausbildung erhielten.

Ich habe in einem Land gelebt, in dem ich als Arbeiter die Möglichkeit hatte, mit staatlicher finanzieller Unterstützung und betrieblicher Hilfe ein Eigenheim zu errichten.

Und: Ich habe in einem Land gelebt, in dem die Begriffe Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit absolute Fremdworte waren.

Rückblickend auf die Jahre 1989/90 muß ich sagen, daß mir damals noch nicht so klar wie heute war, wohin die „friedliche Revolution“ führte: in ein von Macht, Gier und Egoismus dominiertes System, wo das Kapital und der Profit über den Menschen stehen. Heute lebe ich in einem mir aufgezwungenen Staat

  • der Milliarden Euro in die Bankenrettung und die Entwicklung von Waffensystemen steckt, während immer mehr Menschen sozial absteigen müssen;
  • in dem Parteien, welche Träger der faschistischen Ideologie sind, von den Herrschenden und deren Staatsschutzorganen nicht verboten werden;
  • ein Rostocker Ex-Pfarrer von gewissen Medien als „Bundespräsident der Herzen“ gefeiert wird, obwohl er Wesentliches über seine DDR-Biographie verschweigt;
  • sich eine selbsternannte „Elite“ mit unverdienten akademischen Graden schmücken und hohe Regierungsposten bekleiden darf;
  • Wirtschaftsbosse durch ihre Lobbyisten in Regierung und Parlament Gesetze diktieren, die anschließend vom Bundestag durchgewunken werden;
  • der Wissenserwerb vor allem vom Geldbeutel der Eltern abhängt, während sich die Chancen von Kindern und Jugendlichen ohne entsprechendes Hinterland auf Bildung und berufliche Perspektive ständig verringern;
  • das Rentenniveau seit 2004 trotz Erhöhungen um 12,4 % gesunken ist;
  • die Anzahl der „Tafeln“ von etwa 300 zu Beginn der 90er Jahre auf derzeit über 800 angestiegen ist;
  • die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes, so man einen hat, ein ständiger Begleiter ist;
  • prekäre Beschäftigung und Leiharbeit unablässig zunehmen;
  • Minijob-Inhaber eine Entlohnung erhalten, die für den Lebensunterhalt nicht ausreicht, so daß sie vom Arbeitsamt „aufgestockt“ werden müssen;
  • Minijobs kein Sprungbrett in reguläre Beschäftigung, sondern eine Niedriglohnfalle sind;
  • man ab 45 als qualifizierte Kraft auf dem Arbeitsmarkt kaum noch Chancen besitzt;
  • nach einer Studie vom März 2012 jährlich elf Mio. Tonnen Lebensmittel in den Abfall kommen und etwa ein Drittel der durch die EU subventionierten Schweinefleischproduktion vernichtet wird;
  • die Beteiligung der Streitkräfte an „Auslandseinsätzen“ durch den Bundestag als Friedensmission verklärt werden darf, obwohl sie Artikel 87 a des GG widerspricht;
  • die Themen Maut und Porsche weitaus wichtiger sind als der soziale Wohnungsbau;
  • Korruption und Betrug zum Alltagsgeschäft gehören;
  • Rassenhaß und Ausländerfeindlichkeit immer aggressiver werden;
  • Horrorfilme rund um die Uhr in den Medien angeboten werden dürfen;
  • Pflegenotstand und Angst vor dem Altwerden landesweit herrschen;
  • Rußland durch die Lügenpresse im Ukraine- wie im Syrienkonflikt als Aggressor hingestellt werden darf, während man den Rechten Sektor und die Al-Nusra-Front hofiert.

Ich bin so wütend, daß ich hier mit dem Aufzählen der „Vorzüge“ des bundesdeutschen Alltags Schluß machen muß.

Jetzt lebe ich in einem Land, das sich demokratisch nennt, während in Wirklichkeit nur der „Vollziehende Ausschuß des Kapitals“ an der Macht ist.

USA-Präsident Franklin Delano Roosevelt bemerkte einst zu diesem Thema: „Die Freiheit einer Demokratie ist nicht sicher, wenn die Menschen das Wachstum privater Macht bis hin zu dem Punkt tolerieren, daß sie stärker wird als der demokratische Staat selbst. Wenn die Regierung zum Eigentum eines Individuums, einer Gruppe oder jeder anderen Form der Kontrolle durch private Mächte wird, ist das in seiner Essenz faschistisch.“

In einem solchen Land muß man Angst vor der Zukunft haben! Angesichts dessen frage ich mich besorgt: Wo sind die gemeinsam handelnden linken Kräfte, die dem Wüten und unkontrollierten Treiben des Kapitals und der von ihm ausgehenden Faschisierung Einhalt gebieten?