RotFuchs 225 – Oktober 2016

Eine proletarische Familien-Saga

Hans Rentmeister

Zögernd forschen und berichten heute Angehörige der zweiten Generation über das Leben, den Kampf und die Leiden ihrer Familienangehörigen während des Faschismus. Die Autorin und ihr Ehemann gehören zu dieser zweiten Generation. Christel Weiß versucht, einseitigen Betrachtungen auf anspruchsvolle Weise zu widersprechen. Anhand der eigenen Familiengeschichte schildert sie in ihrem Roman die Zeit vom Beginn des vorigen Jahrhunderts bis 1945. Basis der Handlung sind real existierende Personen wie Fritz und Lea Große, Albert Hähnel, Rudolf Harlaß, Edith und Kurt Kretzschmar, Max Müller, Lilli und Jakob Segal, Curt Wach. Diese Protagonisten werden mit fiktiven Personen und Handlungen verknüpft. So kann die Form einer strengen Dokumentation gesprengt und eine spannende Handlung entwickelt werden.

Komplexe historische und politische Abläufe auf der Basis gründlich recherchierter Fakten werden bildhaft in die Handlung eingefügt. Erlebbar wird, wie sich die Masse des deutschen Volkes in das faschistische Regime integrierte und es in nicht unerheblichem Maße aktiv trug. Bohrend werden im Roman die Fragen wiederholt: Wie konnten so viele Menschen, unabhängig von Herkunft und Bildungsgrad, einem solch menschenverachtendem Regime folgen? Warum zeitigten die Aufklärungs­bemühungen der Antifaschisten so wenig Erfolg? Diese Fragen sind nicht nur historische Fragen. Es sind Fragen der jüngeren Geschichte und leider auch der Gegenwart.

Der Roman führt uns in eine Proletarierfamilie aus dem Erzgebirge, die später vor allem in Chemnitz gewirkt hat. Ein paralleler Handlungsort ist Berlin in den 30er Jahren bis zur Befreiung 1945. Plastisch werden das Leben und die Armut der „einfachen“ Menschen im Erzgebirgischen und Sächsischen dargestellt. So gut, daß es nicht nur Lehrenden, sondern auch Lokalhistorikern als Bild dienen könnte. Auf diese Weise werden Wurzeln der Klassenkämpfe in dieser Zeit sichtbar. Aus dem Kampf um ein bißchen mehr sozialer Gerechtigkeit entwickelte sich das politische Engagement der Romanfiguren, das bei jenen mit stabilen moralischen Werten und gesundem Menschenverstand zwangsläufig in ein Engagement gegen die Nazis mündete.

Der Kampf der aktiven Nazigegner im Roman begann in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und reicht bis zur Befreiung 1945. Es sind Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, atheistische Juden, Christen und andere. Es gibt keine Fokussierung auf eine bestimmte Partei oder Organisation. Wenn auch zahlenmäßig klein, so doch breit im sozialen Spektrum wäre das Handeln dieser Nazigegner unter zivilisatorischen Umständen nicht spektakulär. In jener Zeit aber war ein solcher Widerstand nicht weniger lebensgefährlich als etwa Attentats­versuche. Wie das Buch zeigt, führte er zu schwersten persönlichen Konsequenzen auch für die Familie, bis hin zu den minderjährigen Kindern. Der Roman schildert anschaulich die illegale Arbeit, aber auch Denunziation, KZ und die Repressalien der Nazis, bis hin zum Todesurteil für mehrere Familienangehörige. Familiärer Zusammenhalt und die Solidarität Außenstehender lassen die Familie die schweren Eingriffe in ihr Leben überstehen.

Viele Opfer des Faschismus sind nach der Befreiung zur Tagesordnung, d. h. zum Ringen um das Überleben und für eine bessere Zukunft, übergegangen. Erinnerungen aufzuschreiben war nicht ihre Sache. Aber ihre Erfahrungen darüber, wie es zum Faschismus kam, wie es unter ihm war und wie sich einige gewehrt haben, sind brandaktuell. Faschistischer Ungeist beeinflußt immer noch bzw. erneut deutsches und europäisches Leben. Geschichte wird in der BRD verfälscht, indem man die Leiden auf einige wenige, dem Zeitgeist genehme Opfergruppen und Personen reduziert, Opferhierarchien schafft und einige Gruppen marginalisiert. So entstehen neue Geschichtslügen. Der Roman versteht sich daher nicht nur als Geschichts- und Geschichtenbuch, als Denkmal für Menschen, die es verdient haben. Man erkennt das an den Passagen mit Bezug zu heutigen Ereignissen. Besonders deutlich wird das im Anhang, wo u. a. aufgelistet wird, welche zu DDR-Zeiten nach Antifaschisten benannten Schulen, Straßen, Plätze, Betriebe usw. nach 1989 umbenannt wurden.

Das Buch ist allen, ob jung oder alt, zu empfehlen. Unaufdringlich fordert es auf, gegen aktuelle faschistische Tendenzen aktiv zu werden.

Hans Rentmeister ist ehem. Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausen-Komitees.

Christel Weiß:

Da war nicht nur einer …
Eine proletarische Familien-Saga

BS-Verlag, Rostock 2015, 506 Seiten
ISBN 978-3-86785-321-7

Preis 19,90 €