RotFuchs 236 – September 2017

Enttäuschte Hoffnungen oder doch
eine Perspektive für Afghanistan?
(Teil 3 und Schluß)

Dr. Matin Baraki

VIII. VR China und Rußland als neue Akteure

Die Versuche des Westens, auch die bewaffnete Opposition (die Taliban) zu inte­grieren, sind gescheitert. „Die Interventionen des Westens waren kontraproduktiv“, betonte der sichtlich verärgerte pakistanische Verteidigungsminister Khawaja Mu­hammad Asif am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz 2017. Der Westen sei für die verfehlten militärischen Eingriffe sowohl in Afghanistan als auch in Irak, Libyen und Syrien und deren Folgen verantwortlich, hob Asif hervor und sagte weiter, am Hindukusch habe eine internationale Militärkoalition unter US-Führung „ein einziges Chaos zurückgelassen“. Für eine politische Lösung des Konflikts in und um Afghanistan hätte eine regionale Kooperation der Länder wie Afghanistan, Pakistan, VR China, Iran und Indien Aussicht auf Erfolg.

Nun versuchen zwei neue Akteure, die Regierungen Chinas und der Russischen Föde­ration, eine politische Lösung zu ermöglichen. Da die VR China als strategischer Partner Pakistans gilt, haben die Taliban ihre Zustimmung signalisiert. Rußland wird als neutraler Vermittler von allen beteiligten Seiten akzeptiert. Ende Dezember 2016 haben China, Rußland und Pakistan sich darauf geeinigt, ausgewählte Taliban-Vertre­ter von der Sanktionsliste der UNO zu streichen. Damit soll ein friedlicher Dialog zwischen Kabuler Administration und Taliban gefördert werden. Während die Regierung in Kabul zurückhaltend reagierte, begrüßten die Taliban den Vorschlag. Der Sprecher der NATO in Kabul, Charles Cleveland, sagte dem Kabuler Tolo-TV, daß „das russische Engagement mit den Taliban“ ihm Sorge bereite. Denn damit würden die Taliban als Organisation legitimiert. Man wolle aber die Kabuler Regierung stärken, betonte Cleveland.

Trotzdem hatte die Regierung der Russischen Föderation erneut zu Afghanistan-Gesprächen für den 14. April nach Moskau eingeladen. Während die Kabuler Admini­stration einen Abteilungsleiter nach Moskau schickte, waren an dem Treffen neben Experten aus Rußland und Afghanistan Vertreter aus China, Iran, Indien und Pakistan sowie den fünf zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken beteiligt. Auch die USA und die Taliban waren dazu eingeladen. Beide hatten eine Teilnahme abgelehnt, was einem Boykott gleichkam. Die Teilnehmer der Konferenz riefen die Taliban zu Frie­densgesprächen auf. Ihre Führung solle von einer gewaltsamen Lösung des Konflikts abrücken und mit der Regierung in Kabul Verhandlungen aufnehmen, hieß es am 14. April im russischen Außenministerium. Mögliche Friedensgespräche könnten in Moskau stattfinden.

Statt an den Friedensverhandlungen teilzunehmen, hatte die US-Armee am Vorabend der Friedenskonferenz in Moskau im Osten Afghanistans eine 16 Millionen US-Dollar teure Bombe abgeworfen. „Aber eine 10.000 Kilogramm schwere Bombe auf eine Gruppe leicht bewaffneter Terroristen abzuwerfen, ist so, als ob man mit Kanonen auf Spatzen schießen würde.“ („De Telegraf“, Amsterdam, 15. 4.) Mindestens 36 Men­schen, die vom US-Militär als IS-Kämpfer bezeichnet wurden, sind getötet worden. Nach Angaben der Regionalregierung hat es jedoch mindestens 94 Tote gegeben. Die afghanische Bevölkerung sieht dieses massive Bombardement als einen Racheakt der USA an. Denn wenige Tage zuvor war in der gleichen Region ein US-amerikani­scher Elitesoldat bei einem Einsatz getötet worden. (FAZ, 15. April)

Mit dieser Bombardierung haben die USA ein Tunnelsystem zerstört, das sie selbst in den 80er Jahren für die terroristischen Modjahedin gebaut hatten.

IX. Afghanistan könnte eine Perspektive haben

Externe Faktoren haben auch in Afghanistan den Konflikt nicht gelöst, sondern es wurden im Gegenteil lediglich fremde Interessen nach Afghanistan transportiert und damit politische Lösungen zunichte gemacht.

Erst nach 16 Jahren NATO-Krieg, Zerstörung und menschlichen Katastrophen am Hindukusch sind manche westliche Politiker, wie der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, zu der Erkenntnis gelangt, daß „Militärinterventionen fehlgeschlagen sind und […] es keine Stabilisierung gegeben hat“. Deswegen verlassen die Menschen scharenweise Afghanistan. Es ist an der Zeit, den Konflikt durch Afghanen, in Afgha­nistan und im Sinne der nationalen Interessen Afghanistans zu lösen.

Die „internationale Gemeinschaft“ führt seit mehr als neununddreißig Jahren einen verdeckten und seit fünfzehn Jahren einen offenen Krieg gegen Afghanistan und hat damit das gesellschaftliche Gefüge des Landes weitgehend zerstört: die Infrastruk­tur, die ökonomischen, politischen und sozialen Fundamente sind in einem Ausmaß zerrüttet, daß es eine funktionsfähige Gesellschaft am Hindukusch auf absehbare Zeit nicht geben wird. Auf Grundlage eigener Feldforschungen und zahlreicher Gespräche mit der Bevölkerung aus verschiedensten Schichten und Klassen in Afghanistan bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß es längst an der Zeit ist, über Alternativen zum NATO-Krieg nachzudenken. Neununddreißig Jahre Krieg sind mehr als genug. Wir müssen ernsthaft nach neuen Wegen zum Frieden suchen. Folgendes schlage ich vor:

  1. Einseitiger und bedingungsloser Waffenstillstand seitens der NATO, zunächst für die Dauer von mindestens sechs Monaten.
  2. Ablösung der NATO-Einheiten durch eine International Security Assistance Force (ISAF), bestehend aus Einheiten der islamischen und blockfreien Staaten. Vier Fünftel aller UN-Blauhelmsoldaten kommen aus den blockfreien Staaten, warum nicht auch in Afghanistan?
  3. Auflösung aller NATO-Militärbasen und Stützpunkte sowie diesbezüglich mit der Kabuler Administration geschlossener Verträge.
  4. Einladung zu einer nationalen Versöhnungspolitik mit allen politischen Gruppierungen, einschließlich der islamisch geprägten, wie den Taliban, der Hesbe Islami von Gulbudin Hekmatyar und dem Haqani-Netzwerk.
  5. Bildung einer „Wahrheitskommission“ nach dem Muster Südafrikas.
  6. Auflösung aller militärischen und paramilitärischen Verbände der Warlords sowie der ausländischen und afghanischen privaten Sicherheitsfirmen.
  7. Vorbereitung von landesweiten Wahlen in den Dörfern, Kreisen, Bezirken usw. zu einer nationalen Loya Djerga (Ratsversammlung) unter der Kontrolle unabhän­giger internationaler Organisationen wie Friedens-, Frauen-, Studenten- und Gewerkschaftsbewegungen.
  8. Konstituierung einer vom Volk gewählten Loya Djerga, jedoch keine Ernennung ihrer Abgeordneten durch den Präsidenten.
  9. Auf dieser Loya Djerga sollen eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes, basierend auf der Abschaffung des Präsidialsystems, sowie eines Wahl-, Parteien- und Gewerkschaftsgesetzes gewählt werden.
  10. Durchführung von allgemeinen, freien und von unabhängigen Gremien kontrol­lierten Parlamentswahlen.
  11. Wahl einer neuen Regierung unmittelbar durch das Parlament, ohne vorherigen Vorschlag des noch amtierenden Interimsministerpräsidenten.
  12. Abschaffung der Politik der offenen Tür und Einleitung einer auf nationalen Interessen basierenden Wirtschafts-, Finanz-, Zoll- und Steuerpolitik.
  13. Maßnahmen zum Wiederaufbau des zerstörten Landes, wofür ein Viertel der NATO-Kriegskosten aufzuwenden wäre. Diese Mittel sollen auf einem unter unabhängiger Kontrolle stehenden Treuhandkonto geparkt und nur projekt­gebunden verwendet werden können.
  14. An den Wiederaufbaumaßnahmen sollten die Nachbarn Afghanistans bevorzugt beteiligt werden. Dies wird die regionale Kooperation und Stabilität fördern.
  15. In der Region um Afghanistan sollte auf eine mittel-südasiatische Union hinge­arbeitet werden. Neben Afghanistan sollten ihr die fünf mittelasiatischen Länder Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan und Kasachstan sowie Iran, Pakistan und Indien angehören. Denn alle diese Länder haben viele Gemeinsamkeiten wie Sprachen, Religionen und Geschichte.
  16. Als vertrauensbildende Maßnahme sollte Afghanistan als erstes Land nach etwa fünf Jahren damit beginnen, seine nationale Armee aufzulösen.
  17. Eine mittel-südasiatische Union könnte zu einer endgültigen Lösung des Kaschmir-Konfliktes zwischen Indien und Pakistan und des Konfliktes um die Durand-Linie zwischen Afghanistan und Pakistan beitragen.
  18. Dann wäre es an der Zeit, die Atomwaffenarsenale Indiens und Pakistans zu reduzieren und abzuschaffen. Dadurch könnte eine der konfliktreichsten Regio­nen des asiatischen Kontinents zu einer Zone des Friedens, der Stabilität und der Prosperität werden.