RotFuchs 228 – Januar 2017

Erich Kästner und „Das letzte Kapitel“

Siglinda Funke

Mit der Machtergreifung Hitlers 1930 begannen Kriegswolken das Land zu verdunkeln. Gerade in dieser, von den meisten Deutschen verdrängten gefährlichen Situation schrieb Erich Kästner „Das letzte Kapitel“ – ein Gedicht über den Giftgastod.

Er, der Verse, Glossen, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Periodika Berlins veröffentlichte, wurde mehrfach von der Gestapo vernommen und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Seine Bücher vernichteten die Nazis bei der Bücherverbrennung 1933 ebenso wie die Werke von Karl Marx, Heinrich Heine, Thomas Mann, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und vielen anderen.

Was bewog ihn, damals, als er noch nichts vom Zweiten Weltkrieg, der nur einige Jahre später begann und Millionen Menschen den Tod brachte, nichts vom Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki wissen konnte, solche Verse zu Papier zu bringen? Als er es 1930 verfaßte, lag das Jahr 2003 noch weit in der Zukunft. Unvorstellbar in der Zeit, in der es geschrieben wurde, später erschütternd ob der Realität und der tatsächlichen Gefahr.

Was passiert in 70 Lebensjahren – einem Menschenalter? Steht man selbst noch mitten im Leben? Verknüpft man vielleicht Erlebtes mit Hoffnungen und Träumen für die Zukunft?

Es ergreift mich zutiefst zu lesen, mit welch einer Genauigkeit er 1930 chemische Waffen beschreibt, wie sehr er sich der Möglichkeit der Vernichtung jeglichen Lebens bewußt ist. Kästner sah keinen Ausweg aus Hitlers Kriegskurs und der unaufhaltsamen technischen Weiterentwicklung hochexplosiver Atomkraft für den nichtfriedlichen Gebrauch. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zog Kästner nach München, wo er bis 1948 das Feuilleton der „Neuen Zeitung“ leitete.

Er erlebte, wie im westlichen Teil Deutschlands mit Währungsreform und dem sogenannten Wirtschaftswunder versucht wurde, zur Tagesordnung überzugehen. Hinzu kamen die bald erstarkenden Stimmen für eine Remilitarisierung Westdeutschlands. Dem Antimilitarismus blieb Kästner treu. Er trat bei Ostermärschen als Redner auf und wandte sich später entschieden gegen den Vietnamkrieg. Seinen Kampf gegen die atomare Aufrüstung gab er nie auf.

Aus der Ansprache Erich Kästners beim Ostermarsch 1961 in München

Das Kuratorium für den diesjährigen Ostermarsch hat mich gebeten, die süddeutsche Marschgruppe und die übrige Versammlung hier in München zu begrüßen, und ich habe ohne Zögern zugesagt.

Ich möchte Ihnen vorlesen, was ein berufener Mann geschrieben hat. Ein Mann mit Phantasie und gesundem Menschenverstand, der außerdem, im Gegensatz zu mir, ein Fachmann ist. Ich meine Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007, d. Red.), den Atomphysiker und Philosophen. Er schreibt im Taschenbuch „Kernexplosionen und ihre Wirkungen“: „Entweder wird das technische Zeitalter den Krieg abschaffen, oder der Krieg wird das technische Zeitalter abschaffen … Die Entwicklung des technischen Zeitalters ist dem Bewußtsein des Menschen davongelaufen. Wir denken und handeln von Begriffen aus, die früheren Zuständen der Menschheit angemessen waren, den heutigen aber nicht. Wir könnten uns wahrscheinlich sehr viele überflüssige Anstrengungen ersparen, wenn wir etwas mehr Zeit und Kraft darauf verwendeten, uns die Lebensbedingungen unserer Welt in aller Ruhe klarzumachen … Beim Versuch einer sorgfältigen Abschätzung bin ich zu der Vermutung gekommen, daß ein Atomkrieg (mit vollem Einsatz der existierenden Waffen) vielleicht 700 Millionen Menschen töten würde, darunter den größeren Teil der Bevölkerung der Großmächte, die heute als Träger dieses Kriegs allein in Betracht kommen. Er würde wahrscheinlich einige weitere hundert Millionen mit schweren Strahlen- und Erbschäden zurücklassen. Bedenkt man die wahrscheinliche Wirkung eines solchen Vorgangs auf die Überlebenden, so wird man wohl vermuten müssen, daß sie bereit wären, zu jedem Mittel zu greifen, das die Wiederholung einer solchen Katastrophe zu verhindern verspräche. … Wer das durchdenkt, wird überzeugt sein, daß dieses Unglück vermieden werden muß, soweit das überhaupt in menschlichen Kräften steht …“

Unser friedlicher Streit für den Frieden geht weiter. Im Namen des gesunden Menschenverstands und der menschlichen Phantasie. Resignation ist kein Gesichtspunkt!