RotFuchs 197 – Juni 2014

Wie die BRD ihre Ausbildungslücke schließt

Europameister im Fachkräfterauben

Dr. Peter Elz

Die „Zuwanderer“-Debatte in der BRD wirft ein grelles Schlaglicht auf das Wesen eines Systems, dessen Spitzenpolitiker und Wirtschaftsbosse ohne Unterlaß und Scham verkünden, Deutschland benötige Hunderttausende Spezialisten, die nur aus dem Ausland zu beschaffen seien. Hier erweist sich das ganze Gerede von Menschenrechten und europäischer Gemeinsamkeit als reine Phraseologie. Dieses wirtschaftlich kraftstrotzende Land, das sich überdies als das demokratischste empfindet, ist außerstande, seinen Fachkräftebedarf mit eigenen Menschen und Mitteln zu decken. Was für eine Bankrotterklärung!

Wie aber konnte es dazu kommen? Es offenbart sich die Achillesferse einer auf kurzfristige Profiterzielung ausgerichteten Wirtschaftspolitik, die eher bereit ist, Milliarden für Werbung und horrende Managergehälter rauszuwerfen, als diese Gelder in die Heranbildung eines eigenen Expertennachwuchses zu stecken. Denn das zahlt sich, wenn überhaupt, erst nach Jahren aus und schmälert bis dahin nur den Reibach.

Im Gegensatz dazu waren breitgefächerte Lehrlingsausbildung und qualifizierte Weiterbildung unverrückbare Bestandteile des betrieblichen Reproduktionsprozesses in der geschmähten DDR.

Die BRD verzichtet bewußt auf eine solche Kostenbelastung, zumal es ja die Möglichkeit gibt, das von anderen ausgebildete Personal – wie in den Zeiten der massenhaften Abwerbung zur Flucht in den Westen verleiteter DDR-Fachkräfte – zum Nulltarif zu bekommen.

Dieser „innerdeutsche“ Prozeß konnte nach dem Untergang der DDR sogar noch forciert werden. Seit 1990 „erwarb“ die BRD-Wirtschaft ohne eigenen Aufwand mehr als eine Million gut ausgebildeter und zugleich relativ anspruchsloser Fachleute vieler Bereiche aus dem annektierten Osten. Dieser ungeheure Personalzufluß – verbunden mit dem eigenen Erfahrungsschatz einer hochentwickelten Industrie- und Exportwirtschaft – hat ganz maßgeblich dazu beigetragen, daß sich die BRD lange Zeit als „Exportweltmeister“ rühmen konnte. Jetzt ist dieses Reservoir offensichtlich ausgeschöpft, und man wird des selbstverschuldeten Dilemmas gewahr.

Ohne jegliches Schamgefühl plündert die BRD das Qualifiziertenreservoir anderer Staaten. Das ist Diebstahl an fremdem Volksvermögen. Die anvisierten Opfer – betroffen sind vor allem auch ehemals sozialistische Länder wie Bulgarien und Rumänien – haben seinerzeit enorme Mittel für Erziehung und Ausbildung ihrer Bürger vom Kindergarten bis zu den Universitäten bereitstellen müssen. Jetzt kommen die BRD-Konzerne und deren Staat, um nach schon lange von den USA praktizierter Methode das hochqualifizierte Personal abzuräumen, ohne selbst auch nur einen Cent zur Finanzierung dessen Bildungsweges beigetragen zu haben. Inzwischen weiß man besser, warum Berlin so darauf drängte, einstmals sozialistische Staaten Osteuropas in die EU einzubinden.

Zur Begründung des großen Raubzuges wird Wohltätigkeit vorgetäuscht. Die anderswo begehrten Fachleute lägen ja daheim arbeitslos auf der Straße, die BRD aber bringe sie in Lohn und Brot. Würden Merkel & Co. tatsächlich europäisch denken und handeln, müßte die Devise lauten: Ärzte, Ingenieure, Fachleute und Spezialisten! Bleibt in euren Ländern! Wir helfen euch dabei, sie nach vorn zu bringen. Doch das entspricht nicht kapitalistischer Logik und Moral. Zu dieser Linie gehört zugleich auch das Bestreben, weniger qualifizierte Menschen als „Sozialschmarotzer“ knallhart abzuwehren.

Ist eigentlich jemals nach einer Erklärung dafür gesucht worden, warum das heute bettelarme Bulgarien einen solchen „Überhang“ an Fachkräften besitzt, den man ohne Skrupel abschöpfen kann? Hängt das nicht mit der Tatsache zusammen, daß dieses Land unter der „kommunistischen Diktatur“ in allen Bereichen des Lebens aufgeblüht war?

Als wir Mitte der 90er Jahre in Bulgarien Urlaub machten, beobachteten wir folgendes: Nachdem wir im Hotel zwei zusätzliche Salatteller bestellt hatten, erschien uns die Rechnung äußerst niedrig. Die des Deutschen mächtige Kellnerin klärte uns auf. Wir empfänden den Preis zwar als gering, sie aber könne sich einen solchen Teller von ihrem Gehalt nicht leisten. Wenn sie etwas übrigbehalte, müsse sie den Betrag für den Winter zurücklegen, in dem es weder Arbeit noch Arbeitslosengeld gebe.

Am Strand trafen wir einen jüngeren Mann, der Muscheln fischte. Die Tagesernte verkaufe er an ein Hotel für 1 DM, ließ er wissen. Zuvor sei er Ingenieur auf der Schiffswerft in Varna gewesen. Diese habe gleich nach dem „Umbruch“ wegen mangelnder Aufträge schließen müssen. Um den Betrieb und dessen Arbeiter habe sich niemand gekümmert.

Am Strand befanden sich Zelte von Physiotherapeuten, die ihre Dienste den Touristen anboten. Sie hätten in Kliniken keine Arbeit, weil die eigenen Leute ihre Dienste nicht bezahlen könnten, teilten sie uns mit.

Im Rila-Gebirge fielen uns etliche Gewächshäuser und Viehställe auf, die verfallen waren oder leer standen. Die Erklärung der Reiseleiterin lautete: Früher habe Bulgarien insbesondere die DDR mit Tomaten, Gurken, Paprika, Obst, Wein und Konserven beliefert. Das sei plötzlich alles weggebrochen.

An den Straßenrändern standen Traktoren herum – kaputt, verrostet, nicht mehr einsetzbar. Statt dessen sah man Bauern mit Pferden oder Kühen kleinste Flächen bewirtschaften. Der Rest lag brach.

In den Städten fiel uns auf, daß auf Balkonen vieler Plattenbauten Brennholz gestapelt war. Der Grund: Die Fernheizungsgebühren waren so angestiegen, daß viele Bewohner zu einfachen Öfen zurückkehren mußten.

Solche Verhältnisse, herbeigeführt im Namen von Freiheit und Demokratie, haben das Land sozial weit zurückgeworfen und die Menschen dazu getrieben, ihre Heimat zu verlassen. Wenn ich jetzt aus den Medien der BRD erfahre, die qualifizierteren Zuwanderer aus den Balkanstaaten seien meist Ältere, während sich unter den Schlecht- oder gar nicht Ausgebildeten – etliche von ihnen sind sogar Analphabeten – vor allem Jüngere befänden, dann wirft auch das ein bezeichnendes Licht auf den Verfall des Bildungswesens in diesen Regionen.

Der „humanitäre Aspekt“ des „Auffangens“ von Fachkräften aus Südeuropa durch Konzerne und Staatsmacht der BRD bedarf im Lichte solcher Tatsachen wohl keines weiteren Kommentars.