RotFuchs 233 – Juni 2017

Geteilte „Rechtsprechung“
oder Rechtsstaatlichkeit?

Dr. sc. jur. Heinz Günther

In dem nunmehr seit mehr als 25 Jahren existierenden Gesamtdeutschland werden Rechtsfragen in Ost und West immer noch unterschiedlich gehandhabt. Entgegen völkerrechtlichen Wertungen und abgeschlossenen Verträgen, entgegen verfassungs­rechtlichen Grundrechten sowie den allgemeingültigen Bestandsschutzregelungen setzt man alles daran, diesen Zustand beizubehalten, Ansprüche und Rechte ost­deutscher Bürger, insbesondere die bestimmter Gruppen, zu unterlaufen.

Was sind die Gründe für dieses geteilte Vorgehen?

Es ist zunächst einmal Folge eines Denkmusters aus der Zeit des Kalten Krieges und eine Spätfolge der in der sogenannten Hallsteindoktrin postulierten Ausschließlich­keitsanmaßung der alten BRD. Sie findet heute insofern ihre Fortsetzung, als in vielen Bereichen des gesellschaftlichen, sozialen, politischen und rechtlichen Lebens aus­schließlich BRD-Normen zugrunde gelegt werden. Unter dem Vorwand der „Anglei­chung“ werden die in der DDR erworbenen Rechte und Ansprüche vielfach negiert oder gering gewertet. Um diesem einen „gerechten“ Anstrich zu geben, wurde ein höchst ungewöhnliches Rechtskonstrukt aus der Taufe gehoben.

Da den Initiatoren dieser Art der „Vereinigung“ keine hinreichenden Rechtsgrundlagen zur Verfügung standen, haben sie sich kurzerhand selbst entsprechende Normen geschaffen. Den Ausgangspunkt dafür lieferte bereits 1991 der damalige Außenmini­ster der BRD, Klaus Kinkel (FDP). Er forderte die Delegitimierung der DDR und verun­glimpfte sie als „Unrechtsstaat“. Damit sprach er ihr – unter späterer Mitwirkung selbst führender Politiker der Partei Die Linke, rückwirkend jede Rechtmäßigkeit ab. Die anmaßende Arroganz dieses Vorgehens wird deutlich, wenn man sich vergegen­wärtigt, daß die DDR Mitglied der Vereinten Nationen und ein völkerrechtlich von den Staaten der Welt anerkannter und geschätzter Staat war. Der Boden dieser Geistes­haltung wurde und wird durch einen weithin gleichgeschalteten medialen Kreuzzug bereitet. Er war und ist darauf gerichtet, die zwischenzeitlich weithin geschleiften wirtschaftlichen Potenzen der DDR, ihre sozialen, kulturellen, gesundheitlichen und bildungsmäßigen Errungenschaften sowie ihr Lebensniveau schlechtzumachen und kleinzureden. Den ostdeutschen Bürgern sollte damit das Gefühl der Zurückgeblie­benheit suggeriert und ihnen eingeredet werden, daß sie in der kapitalistischen Gesellschaft ein nahezu paradiesisches Leben erwartet. Schließlich wurden sie unter dem Vorwand der „Angleichung“ genötigt, rechtliche Einengungen hinzunehmen und darauf zu verzichten, selbstbewußt Rechte und Ansprüche aus selbstgeschaffenen DDR-Errungenschaften einzufordern. Mit fadenscheinigen Begründungen wurde nach der altbewährten Methode „Teile und herrsche!“ verfahren, um trotz gleichwertiger Voraussetzungen Ansprüche einzelner Berufs- und Personengruppen unterschiedlich zu behandeln. Das war und ist für die Betroffenen fast immer mit rechtlichen, gesell­schaftlichen oder sozialen Ausgrenzungen und Beschränkungen verbunden, von ständiger Diffamierung ganz abgesehen.

Strafrechtsähnliche Sanktionen richteten sich insbesondere gegen ehemalige Angehörige des MfS und jene, die mit ihnen in Verbindung standen. Da man sie mangels rechtsgültiger Normen nicht belangen konnte, maßt man sich Rechtsdeu­tungen an, die das möglich machen sollen. So werden rechtmäßige Tätigkeiten für die DDR als „strafwürdige“ Handlungen umfirmiert und nachträglich negativ beurteilt. Daß man damit gegen das Rechtsstaatsprinzip „Rückwirkungsverbot“ (Art. 103 Grundgesetz) verstößt, kümmert die Urheber nicht. Für sie gilt: „Wer einem ,Unrechts­staat‘ gedient hat, hat damit auch ,Unrecht‘ getan.“ Wie die Praxis zeigt, dient ihnen das als hinreichende Rechtsgrundlage, um die Betroffenen nach Belieben in Verruf zu bringen und unter Generalverdacht zu stellen. „Staatsnähe“ nennen sie die Kurz­formel dieses Schuldvorwurfs, den sie als „Aushilfsstrafdelikt“ deklarieren.

Steht zur Entscheidung, ob ein solcher Bürger in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder selbst medizinischen Bereichen eine verantwortliche Position bekleiden darf, werden weitere Grundrechte negiert, und das Votum fällt gegen sie aus. Nach dem Verständnis der Verfechter solcher Praktiken gilt allein die frühere Zugehörigkeit oder Verbindung zum MfS und die Verteidigung ihres Staates gegen alle Anfeindungen immer noch als eine Art lebenslanger „Dauerstraftatbestand“. Dagegen spielen selbst erwiesene gute fachliche Qualifikationen und die auch als BRD-Bürger erbrachten Leistungen sowie der Nachweis gesellschaftspolitischer und rechtlicher Unbedenk­lichkeit eine völlig untergeordnete Rolle. Das jüngste Beispiel dieser Art erfuhr die Öffentlichkeit durch die noch nach 25 Jahren ausgelöste Kampagne gegen Dr. Andrej Holm, der als Baustaatssekretär im Senat von Berlin eingesetzt werden sollte. Ihm wurde zum Vorwurf gemacht, in den letzten sechs Wochen der Existenz der DDR einen Grundwehrdienst im Wachregiment des MfS „Felix Dzierzynski“ abgeleistet zu haben. Er habe „sogar gewußt“, daß ihm nach Ende des Dienstes das Angebot gemacht werden würde, hauptamtlicher Mitarbeiter zu werden. Hinzu komme, daß er seinem „Arbeitgeber“, der Humboldt-Universität, unvollständige Angaben zu seiner MfS-Vergangenheit gemacht habe. Das sei vorwerfbar, so lautet der unerbittliche Schuldvorwurf der selbsternannten „Rechtswahrer“. Daß allein diese Forderung gemäß Art. 1 GG gegen das „allgemeine Persönlichkeitsrecht“ und analog auch gegen § 146 StPO verstößt, demzufolge sich niemand selbst „belasten“ muß, spielt für die Initiatoren keine Rolle. Ein Blick in bestehende rechtliche Normen macht deutlich, daß man mit der Entscheidung, dem Verlangen der Urheber zu folgen, gegen mehr Rechtsstaatsprinzipien verstößt, als man sie dem „Delinquenten“ vorwerfen könnte.

Die für den Umgang mit der Vergangenheit der ehemaligen Angehörigen des MfS festgelegten Regeln finden vor allem in der 8. Novelle des „Stasi“-Unterlagengesetzes ihren Ausdruck. Rechtsanwalt Dr. Michael Kleine-Cosack aus Freiburg im Breisgau bezeichnete sie als den „letzten Höhepunkt“, der beim Umgang mit der Vergangenheit der Angehörigen des MfS an „Absurditäten“ nicht zu überbieten sei.

Sehr interessante Aufschlüsse bietet auch das Rechtsstaatsprinzip der Verhältnis­mäßigkeit bei Straftätern im Sinne des Strafgesetzbuches im Vergleich zu ehema­ligen MfS-Angehörigen, die weder nach DDR- noch nach BRD-Recht straffällig gewor­den sind. Die „Verfolgungsverjährung“ für Straftäter, so schreibt § 78 StGB vor, beträgt für ein begangenes „Verbrechen“, welches mit einer lebenslangen Freiheits­strafe bedroht ist, 30 Jahre, bei Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren bedroht sind, 20 Jahre und bei Verbrechen, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren bis zehn Jahren bedroht sind, zehn Jahre.

Geht es nach dem „Rechtsverständnis“ der selbsternannten „Rechtswahrer“, so ist die von ihnen geforderte „Verfolgungsfrist“ für MfS-Angehörige selbst nach mehr als 25 Jahren immer noch nicht „verjährt“. Ein solches Vorgehen steht im krassen Gegen­satz zum Art. 20 GG, den allgemein anerkannten Rechtsstaatsprinzipien und dem sich daraus ableitenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der verlangt, daß der einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt (Kommentar GG von Prof. Dr. Dieter Hesselberger, S. 168 ff.). Das zu ignorieren hat mit rechts­staat­lichem Handeln nichts mehr zu tun, sondern gehört in die Kategorie rechtspoli­tischer Willkür.

Während hochrangige Nazis, die sich nachweislich schuldig gemacht haben und mit­verantwortlich sind für millionenfaches Morden in der Welt, in der BRD in höchsten Staatsfunktionen dankbare Verwendung fanden und horrende Bezüge und Renten empfingen, werden ehemalige Mitarbeiter des MfS und so auch der ehemalige Soldat des Wachregiments des MfS, Dr. Holm, selbst nach mehr als 25 Jahren immer noch ausgegrenzt.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob und inwiefern sich das seit mehr als 25 Jahren gegen ehemalige Mitarbeiter des MfS praktizierte, weit gefächer­te Berufsverbot mit den im GG formulierten Grundrechten der BRD vereinbaren läßt. Ihnen wird der Zugang zu vielen Berufszweigen grundsätzlich verwehrt. So werden sie aus Beschäftigungsverhältnissen in Bereichen des Staatsapparates und der Kommunen ausgeschlossen. Sie haben trotz ihrer entsprechenden Qualifikation keine Chance, im Bund oder bei der Polizei zu arbeiten, nicht als Lehrer oder Erzieher, nicht bei der Bahn, bei der Post nicht und auch nicht im Wissenschafts- oder öffentlichen Bereich, und – wie sich jüngst zeigte – auch nicht in medizinischen Berufen! Das bedeutet auch, daß es insbesondere jüngeren Bürgern nahezu unmöglich gemacht wird, sich Rentenansprüche entsprechend ihrer erworbenen Qualifikation zu erar­beiten. Eine solche Ausgrenzung stellt u. a. einen krassen Verstoß gegen das im Art. 2 des Grundgesetzes garantierte Recht der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ dar. Das führt in der Mehrheit der Fälle zu gravierenden Einbrüchen und komplexen nega­tiven Auswirkungen in der gesamten Lebensgestaltung der Betroffenen und ihrer Familien.

Den Fürsprechern solcher Vorgehensweisen sei daher ein Blick in ihr eigenes Grund­gesetz empfohlen. Der erste Satz des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Men­schen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat­lichen Gewalt.“ Und Artikel 3 GG schreibt vor: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. … Niemand darf wegen … seiner … politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Welche Bedeutung die Begründer des Grundgesetzes einst den formulierten Grund­rechten beigemessen haben, wird im Artikel 19 GG hervorgehoben und eingefordert. Dort heißt es: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Daraus folgt, daß jeder, der gegen diese Bestimmungen verstößt, selbst zum „Rechtsbrecher“ wird.

Dieses Vorgehen vollzieht sich in nahezu allen gesellschaftlichen Sphären und trägt strafrechtsähnlichen, sozial- oder rentenrechtlichen Charakter. Dabei werden selbst Rechtsstaatsprinzipien, die charakteristische Bestandteile jedes Rechtsstaates sein sollten, ignoriert. Darüber hinaus berührt ein solches Vorgehen auch immer das Pro­blem der Kollektiv- oder Einzeltatschuld.

In der Praxis wird bei anstehenden Entscheidungen nicht vorrangig gefragt, was den Betroffenen persönlich zur Last gelegt werden könnte, was er getan oder unterlassen hat. Für eine Beurteilung und Entscheidung gegen ihn genügt allein schon seine vormalige Zugehörigkeit oder Verbindung zum MfS. Das ist praktizierte „Kollektiv­schuld“, die in jedem Rechtsstaat und eigentlich auch in der BRD rechtswidrig und untersagt ist! Insofern ist es schon kurios, daß in der BRD für den Umgang mit ehe­maligen Angehörigen des MfS sogar eine „rechtswidrige“ Schuldform als „Rechts­grundlage“ Verwendung findet.

Gemäß Art. I und 103 /1 GG ist nach dem Prinzip der „Einzeltatschuld“ jedem Bürger „… das rechtliche Gehör zu gewähren“. Dazu wird in der Kommentierung betont, daß jede Strafe „in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen“ und logischerweise ausgeschlossen werden muß, wenn keine persönliche Schuld vorliegt (ebenda, S. 60). Das sollte auch für die ehemaligen Angehörigen des MfS gelten! Nulla poena sine culpa! – Keine Strafe ohne Schuld!

Das unbeachtet zu lassen, kommt einem Akt rechtspolitischer Willkür gleich!

Angesichts solcher weitgehender Grundrechtsverletzungen muß man sich fragen, was den Bürgern schön formulierte Grundrechte nutzen, wenn sie nach Belieben verletzt werden dürfen.

Abgesehen davon, daß eine solche Vorgehensweise die Glaubwürdigkeit der deutschen Rechtsprechung beschädigt, wird sich das hier gezeigte Bemühen, politische Intentionen mit vermeintlich rechtlichen Normen zu „rechtsstaatlicher“ Praxis zu verklären, als Makel in der Geschichte der deutschen Rechtsprechung erweisen.

Es ist höchste Zeit, mit einer solchen Art der „Rechtsprechung“ Schluß zu machen!