RotFuchs 235 – August 2017

„Niemand darf wegen seiner Rasse
benachteiligt oder bevorzugt werden“

Gibt es Rassismus?

Hans Dölzer

Welch törichte Frage, mag mancher denken. Haben wir es nicht mit dem Rassismus deutscher Faschisten zu tun, mit dem der südafrikanischen Apartheid und dem der israelischen Machthaber, mit dem Rassismus, auf dem sich die nordamerikanische Gesellschaft gründet? Wie in vielen anderen Fragen sollten wir genauer hinschauen, sollten unsere Sprache, unsere Begriffe untersuchen.

In Artikel 3 des Grundgesetzes der BRD heißt es: „Niemand darf wegen (…) seiner Rasse (…) benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Rassismus leitet sich von „Rasse“ ab. Hier ist offensichtlich „menschliche Rasse“ gemeint.

Aber gibt es überhaupt Menschenrassen? Noch in den 60er Jahren wurden wir in Westdeutschland unterrichtet, es gebe „Pykniker, Athletiker, Astheniker/Leptosome und Dysplastiker“, worunter Körperbau, Psyche und Charakter kategorisiert wurden. Diese Einteilung kam in den 20er Jahren auf und wurde von den Faschisten begeis­tert aufgegriffen. Wir Elfjährigen wurden 1966 vom Lehrer gefragt, wer denn bereit sei, mit einem „Negerkind“ in einem Zimmer zu schlafen. Zu meiner Erschütterung war ich der einzige von 30 Schülern, der sich meldete. Im Elternhaus wurde ich vor „Zigeunern“ gewarnt, und die großbürgerliche Oma regte sich noch in den 50ern darüber auf, daß nach dem Krieg ein „Neger“, ein schwarzer amerikanischer Soldat, auf einem ihrer Biedermeierstühle Platz genommen hatte.

Heute weiß man, daß „Rassemerkmale“ keine Rolle spielen. Europa (insbesondere in dem Landstrich, in dem seit 1871 Deutschland existiert) war über Jahrtausende Durchwanderungsland. Menschen fast aller Erdteile mischten sich hier – wir sind „multikulti“ seit Äonen. Mittlerweile hat die Anthropologie anhand von Gen-Unter­suchungen sogar nachgewiesen, daß sich bereits die Neandertaler mit dem Homo erectus verbandelten. Und da soll es noch „Rassen“ geben?

Apropos Neandertal: Das Neanderthal-Museum (offiziell noch benannt nach der alten Rechtschreibung) nahe Wuppertal zeigte nach der Jahrtausendwende eine Sonder­ausstellung zu „Rassenunterschieden“. Dort erfuhr der Besucher, daß der Unterschied zwischen Menschen, die gemeinhin verschiedenen „Rassen“ zugeordnet werden, lediglich 0,1 Prozent des Genmaterials beträgt. Damit sich diese Erkenntnis nicht allzu stark verbreitete, hatte man die Ausstellung vorsichtshalber in einem Außen­gebäude des Museums untergebracht, das tief im Wald lag, knapp zwei Kilometer Fußweg vom Haupthaus entfernt. Hinweisschilder gab es nicht. Doch war hier der Stand der Anthropologieforschung auf den Punkt gebracht: Es gibt heute keine Menschenrassen – wenn es sie denn jemals gegeben haben sollte. Die landläufigen Unterschiede – Hautfarbe, Haarfarbe und Physiognomie – sind ebenso unbedeutende Eigenschaften wie eine etwaige Vorliebe für Nudeln gegenüber Kartoffeln. Verhalten und Gedankengut werden nicht genetisch, sondern kulturell geprägt – für Marxisten: durch die Produktionsverhältnisse.

Was folgt daraus? Mangels Rassen kann es ebensowenig Rassismus geben wie Anti­rassismus – legt man die geläufige Vorstellung der Begriffsbedeutung zugrunde. Allerdings wird mit einer anderen Herleitung ein Schuh daraus, nämlich wenn unter „Rassisten“ jene verstanden werden, die wahrheitswidrig behaupten, es gebe Menschenrassen. (Und von solchem Verständnis ist offensichtlich das Grundgesetz nicht frei, siehe oben.) Von dieser Vorstellung ist es nicht mehr weit zum un­mensch­lichen Bild von Höher- und Minderwertigkeit. Sprechen wir also ruhig weiter von Rassismus und Antirassismus – mit dem Wissen um diesen Hintergrund.

Bis hierhin erscheint die Diskussion für aktuelle Auseinandersetzungen überflüssig. Sie wird jedoch wichtig, wenn wir uns mit einem Wort befassen, das dazugehört: Antisemitismus. Laut Altem Testament erzählt die jüdisch-christliche Legende von Noah und seinen drei Söhnen Sem, Ham und Japhet, die die Stammväter mensch­licher Rassen sein sollen. Nach Sem wurde die Volksgruppe der Semiten benannt, eine Kategorie, die nicht einmal im Altertum ihre Berechtigung besaß. Was heute jedoch unter „Antisemitismus“ verstanden wird, hat nichts damit zu tun. Fröhlich werden Antizionismus, Antijudaismus und Antiisraelismus durcheinandergeworfen. Mit Rassismus gibt es gleich gar keinen Zusammenhang, denn „Semiten“, falls sie es denn geben sollte, sind keine Rasse – wie oben beschrieben.

Wenn man überhaupt jemanden zur Volksgruppe der Semiten rechnen will, dann sicherlich die Palästinenser, die seit Jahrtausenden in dem Landstrich leben. Die Einwohner Israels dagegen stammen zu einem Großteil aus allen Ecken der Welt. Die Machthaber des Staates bezeichnen ihn als „jüdisch“ – auch das ist keine ethnische Kategorie. Der jüdische Glaube ist nichts anderes als eine Religion und beschreibt keine Volkszugehörigkeit.

Diese Unklarheiten machten sich die Hitler-Faschisten zunutze. Es wurde alles zu einer nicht vorhandenen „jüdischen Rasse“ gezählt, was vielleicht einmal Ahnen hatte, die dem mosaischen Glauben anhingen. Wird denn ein Christ, der etwa zum Buddhismus übertritt, noch immer als Christ bezeichnet? Gehört er am Ende einer „christlichen Rasse“ an? Die Antwort darauf macht die Absurdität des Begriffs „jüdische Rasse“ deutlich. Interessanterweise bedienen sich nicht nur Faschisten, sondern auch die israelischen Machthaber dieses falschen Begriffs.

Der Mordfeldzug der israelischen Herrschenden ist das Gesicht des gewöhnlichen Imperialismus. Die Kritik an dessen Politik als „Antisemitismus“ zu bezeichnen, ist falsch und bewußt irreführend.

Fazit: Religion hat nichts mit Volkszugehörigkeit zu tun. Antiisraelismus richtet sich gegen die Machthaber in Israel, nicht gegen dessen Volk. Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten.

Karikatur: Klaus Stuttmann