RotFuchs 205 – Februar 2015

Im Stechschritt für eine Reichsmark

Herbert Schmidt

87 Jahre alt und von Beruf Diplom-Agronom war ich zu DDR-Zeiten LPG-Vorsitzender. Seit dem 9. Dezember 1945 bin ich politisch organisiert (KPD, SED, PDS, Die Linke). Seit sieben Jahren lese ich den „RotFuchs“. Am besten gefiel mir bisher die Nr. 196 vom Mai 2014. Als Ausdruck meines Dankes fertigte ich für die Redaktion die mitübersandte Collage aus Elementen dieser Ausgabe an.

Macht weiter so! Und hier noch ein kleiner Text von mir:

Als ich sieben war – genau vor achtzig Jahren – wohnte unsere Familie bei Johannes Moses auf der Grube Ferdenande, einem Ortsteil der Gemeinde Sennewitz, nur eine Meile von Halle entfernt.

Wir nutzten eine Wohnküche und eine Kammer, in der meine Eltern, mein zwei Jahre älterer Bruder und ich schliefen. Wir teilten uns beide ein „Bett“, lagen auf einem Strohsack, unter dem sich als Unterboden Fichtenbretter befanden. Aber wir kuschelten uns unter eine Federdecke, die Mutter von ihren Eltern bekommen hatte, als Arno geboren wurde. Zwei Wochen zu spät, weil zwei Geschwister vor uns an Diphtherie verstarben.

Vater war das vierte Jahr arbeitslos. Zwei Millionen Kommunisten, Sozialdemokraten und andere waren noch lange nach 1933 ausgesperrt. Unser Vater befand sich ständig auf Arbeitssuche, wurde von Baubetrieben eingestellt und wieder entlassen. Wie das geschah?

Die Firma meldete die Einstellung des Zimmermanns Otto Schmidt an das Reichsarbeitsamt, das mit Nazibeamten besetzt war. Diese wiederum informierten die Reichsarbeitsfront, die ihre Gestapokontakte anwarf. Unter dem Vorwand, Schmidt würde dem Betrieb schaden und die Gefolgschaft zersetzen, mußte der Firmenleiter die Entlassung vornehmen.

Mutter weinte, weil sie wieder die Familie von der knapp bemessenen Arbeitslosenhilfe ernähren mußte. Ich erinnere mich, daß wir Neun- und Siebenjährigen an der Seite der Eltern standen und wußten, warum Mutter magere Suppen auf den Tisch stellte.

Diesen Vorspann schreibe ich zum besseren Verständnis der eigentlichen Geschichte, die davon berichtet, warum ich für eine Reichsmark im Paradeschritt vor einem hohen SA-Führer und weiteren vier SA-Leuten marschierte.

Wie war das, als das Dritte Reich seinen Lauf begann?

Die Braunkohlengrube wurde geschlossen, weil der Abbau des Flözes für die Besitzer keine Rendite mehr abwarf. Die Hälfte der Kumpel wurde von der Grube „Brotsack“ bei Halle übernommen, die andere Hälfte ging in die Arbeitslosigkeit. Unser Ortsteil hatte 1934 noch kein elektrisches Licht, und wir saßen im Schein einer rußenden Petroleumlampe.

Wir zwölf Jungen und Mädchen hatten den Sommerweg der Fernverkehrsstraße 6, die von der Lausitz nach Niedersachsen auch durch die Häusergruppe der Grube Ferdenande verlief, als Spielplatz auserkoren. So sprangen wir zur Seite, wenn ab und zu ein Auto hupte, um uns zu warnen. Eines Tages kam eine große schwarze Limousine, aus der es wie aus einer Lokomotive dampfte. Scheinbar war die Zylinderkopfdichtung durch. Jedenfalls brachte der Fahrer das Auto an der Postmeile zum Stehen, und alle vier Insassen stiegen aus. Sie trugen SA-Uniformen und darüber lange schwarze Ledermäntel. Einer von ihnen war, wie wir vernehmen konnten, Obersturmführer und zum Gauleiter von Halle-Merseburg gerufen. Um pünktlich anzukommen, hatten sie die Limousine über die Höchstgeschwindigkeitsgrenze gedroschen.

Der Obersturmführer rief meinen Bruder zu sich und sagte: „Wenn du hier auf der Straße einen Stechschritt hinlegst, bekommst du 50 Pfennig!“ Arno ließ sich nicht beirren und antwortete mutig: „Für euch mache ich keinen Stechschritt!“ Der Neunjährige dachte dabei an den Vater ohne Arbeit, an die dünne Suppe auf dem Tisch, vor allem aber an die ständigen Haussuchungen, zu denen drei Gendarmen und ein SA-Mann in der gleichen braunen Uniform bei uns erschienen.

Da sprang ich einige Schritte auf den Mann zu. Durch die waghalsige Reaktion meines Bruders verdrossen, erhöhte der Obersturmführer sein Angebot auf eine Reichsmark.

Kurz entschlossen warf ich die nackten Beine so hoch, wie es kein Grenadier geschafft hätte. Ich spürte dabei die heißen Pflastersteine unter den Fußsohlen. Dann trat ich mit forschen Schritten auf den Mann zu, der in seinen Taschen nach der Mark kramte. Endlich war ich im Besitz des Geldes und sauste zum 300 Meter entfernten Kaufladen. „Lochows Kolonialwaren“ war auf einem Schild zu lesen.

Es brachte einen Liter Petroleum, einen Würfel Margarine, ein Pfund Mehl und ein Roggenbrot. Das hatte ich mir auf dem Wege zu Laden bereits zusammengereimt. So gab ich die Bestellung fehlerfrei auf. „Hast du denn auch Geld, mein Junge?“

Frau Lochow wußte, wie es um die Arbeitslosen stand, litt ihre Familie doch selbst unter der Armut. Sie schrieb auch mal an, wenn wir kein Geld hatten. „Ja, eine Mark!“ antwortete ich.

„Dafür bekommst du auch noch eine Tüte Bonbons. Du bist ein guter Junge!“ Sie hatte längst gerechnet und wußte, daß die Mark für diese Waren nicht ausreichte. Meine strahlenden Augen imponierten ihr, und sie packte alles in ein Einkaufsnetz. Ich rannte im Staub des Sommerweges nach Hause und rief schon auf der Treppe: „Mutter, ich habe was für uns!“ Die konnte die Tränen vor Freude nicht unterdrücken.

Die RF-Redaktion dankt Genossen Herbert für seine sehr gelungene Collage.