RotFuchs 199 – August 2014

Seit 120 Jahren besteht das Internationale Olympische Komitee

Irrtümer des Barons de Coubertin

Jens Wollenberg

Der durch Baron Pierre de Coubertin formulierte Gedanke war durchaus löblich. Der Begründer der neuzeitlichen Olympischen Spiele, die 1896 wieder zur Tradition wurden, erblickte in der Wiederbelebung des Wettstreits der Antike eine Chance, zur Annäherung der Völker und zur Festigung des am Ende des 19. Jahrhunderts ein weiteres Mal bedrohten Friedens beizutragen. Nicht Sieg oder Niederlage, sondern allein die Teilnahme an den Spielen der Neuzeit sollte den Athleten zur Ehre gereichen. „Dabeisein ist alles“, lautete das Motto. Doch schon in Coubertins ehrenhaftem Ansatz verbarg sich ein grundsätzlicher Irrtum im Hinblick auf die Bewertung der Spiele des Altertums. Nur die Sieger wurden damals geehrt, ihre Namen meißelte man in Stein und stellte für sie Statuen auf. Die Verlierer aber brachten der Polis Schande und wurden deshalb nicht selten geächtet.

Nicht minder irrte sich Coubertin in seiner Bezugnahme auf den britischen Sport, dessen Bedeutung – entgegen seiner landläufigen Bezeichnung als „Fair play“ – eher dem Wortsinn des Verbs to sport (vom Lateinischen disportare = sich vergnügen) entsprach. Also nicht hochgesteckte moralische Ziele, sondern allein das Unterhaltungsbedürfnis der aufsteigenden Bourgeoisie war der Maßstab für sportliche Betätigung. Dabei spielten dann immer unverhohlener kommerzielle Interessen im Hinblick auf populäre Disziplinen wie Fußball eine wesentliche Rolle.

Sport war und ist eben nicht „die schönste Nebensache der Welt“, wie seine Funktion oft idealisiert wird. Schon Coubertin mußte erfahren, daß auch bei dieser Betätigung politische Neutralität eine Utopie ist. Denn bald erkannten die Repräsentanten sie ausrichtender Nationen, welche exzellenten Möglichkeiten zur staatlich-politischen Selbstdarstellung Olympische Spiele boten. Die sich dann offerierenden „neuen Medien“ – Funk und Film – sorgten seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts für wachsendes Interesse der Bevölkerung am sportlichen Treiben.

Die Anzahl errungener Medaillen wurde zum Synonym für Prestige und Gewicht eines Landes, woraus sich in den Augen vieler eine Art Rangordnung der Nationen ergab.

Eine üble Funktion erfüllten die vom Hitlerstaat ausgerichteten Olympischen Spiele, die 1936 in Berlin stattfanden. Bereits 20 Jahre zuvor waren sie vom IOC an Deutschland vergeben worden, fielen aber wegen des Ersten Weltkrieges ins Wasser. Die Nazis sahen eine Chance, mit Hilfe der Olympiade die internationale Isolierung und weltweite Ächtung ihres Deutschen Reiches unterlaufen zu können, die sie mit ins Maßlose gesteigertem Nationalismus beantwortet hatten.

Allen Boykottappellen zum Trotz, die sich besonders auf den Antisemitismus der deutschen Faschisten bezogen, entschied sich die nordamerikanische Amateur Athletic Union im Dezember 1935 für die Teilnahme. Dem schloß sich das IOC weitgehend an, so daß die Berliner Olympiade 1936 ein gigantisches Medienspektakel zur Aufwertung des Hitlerstaates wurde. Die Goebbels nahestehende Filmemacherin Leni Riefenstahl bezeichnete das Ereignis als „Fest der Völker – Fest der Schönheit“. Die Akzeptanz der himmelschreienden Menschenrechtsverletzungen, zu denen auch die Zwangsverschickung aller in Berlin lebenden Sinti und Roma an den Stadtrand gehörte, waren gleichsam Vorboten der berüchtigten Beschwichtigungspolitik (Appeasement) der westlichen Mächte im Hinblick auf Kriegsvorbereitungen der Hitler-Faschisten.

Doch nicht wenige Prominente wandten sich gegen eine Austragung der Olympischen Spiele in Hitlers „Reichshauptstadt“.

„Ein Regime, das sich stützt auf Zwangsarbeit und Massenversklavung; ein Regime, das den Krieg vorbereitet und nur durch verlogene Propaganda existiert – wie soll ein solches Regime den friedlichen Sport und den freiheitlichen Sportler respektieren?“ erklärte Heinrich Mann 1936 in Paris. Entgegen Coubertins noblen Absichten ist das IOC inzwischen zu einem totalen Zweckbündnis von Macht und Kapital geworden – ein reines Prestigeobjekt des veranstaltenden Staates, der bestrebt ist, aus den Spielen größtmöglichen materiellen und immateriellen Nutzen zu ziehen. Banken, Unternehmen und Fernsehanstalten bestimmen als deren Sponsoren den Ablauf der Spiele. So erwirkte z. B. das japanische Fernsehen NHK die Ansetzung des Marathonlaufes in London 2012 auf 12 Uhr mittags – also zur denkbar ungünstigsten Zeit –, damit seine fernöstlichen Zuschauer das Ereignis im Abendprogramm am Bildschirm verfolgen konnten.

Der frühere Diplomat der faschistischen Franco-Diktatur Spaniens, Juan Antonio Samaranch, hat in seiner 21jährigen Amtszeit als IOC-Präsident (1980–2001) das zuvor nahezu mittellose Komitee zu einer Wirtschaftsmacht ersten Ranges geformt, die mit ihrem Wanderzirkus Milliarden erwirtschaften und an bestimmte Bereiche des Weltsports verteilen kann. Es läßt sich nicht leugnen, daß daraus auch eine politische Verpflichtung erwächst.

„Der Wettbewerb im Markt der Unterhaltung ist knallhart geworden. Schließlich geht es um enorme Beträge. Will der Sport nachhaltig an diesem Kampf teilnehmen und davon wirtschaftlich profitieren, dann muß er ganz bewußt auch die Regeln akzeptieren, die diesen Markt beherrschen“, formulierte Dieter Mussler 2014 in „Sport als Entertainment“.

„Das Ideal vom politisch neutralen, friedensstiftenden Olympia bleibt, wie die Geschichte gezeigt hat, eine Utopie. Im Spiegel der aktuellen politischen Strömungen und Ereignisse erweist sich olympische Moral oft als Doppelmoral“, konstatierte der Göttinger Sporthistoriker Arnd Krüger.

Unser Autor war Leistungssportler und 1971 BRD-Meister über 10 000 Meter.