RotFuchs 194 – März 2014

Ein Buch der Generaldirektoren
volkseigener Kombinate der DDR

„Jetzt reden wir“

Prof. Dr. Christa Luft

Im Jahr 2014 wird sich die sogenannte Wende in der DDR zum 25. Mal jähren. Eine Flut neuer Publikationen dürfte sich mit dem Untergang des zweiten deutschen Staates befassen. Vom Zeitgeist getragen und der besseren Vermarktung wegen werden sie bekannte Klischees aufwärmen. „Unrechtsregime“ und „Pleitestaat“, „Schrotthaufen“ und „Mißwirtschaft“ sind einige Stichworte. Autoren (seltener Autorinnen), die die DDR von innen kaum kannten, werden abermals die Ineffizienz von Volkseigentum beschwören und privatkapitalistisches Wirtschaften als alternativlos preisen.

Das hier präsentierte Buch, eine Pionierarbeit im wahrsten Sinne, hebt sich davon ab. Es widmet sich einer Leerstelle im Publikationsangebot zur DDR-Ökonomie: dem bisher nicht gehobenen Erfahrungsschatz von „roten Wirtschaftslenkern“. Es erzählen Menschen, welche die DDR von innen kannten, die bei deren Aufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und bei ihrer Manövrierung während des Kalten Krieges dabei waren, aber eben auch bei ihrem Zusammenbruch. Aus berufenen Mündern wird dies ein Beitrag zur Versachlichung in der Darstellung des sozialistischen Wirtschaftsgeschehens sein, so wie das in der jüngeren Zeit bereits zum Beispiel mit dem Film „Die Außenhändler“ von Lutz Pehnert oder mit dem Buch „Der Bereich Kommerzielle Koordinierung“ von Matthias Judt geschah.

Natürlich hatten sich die Initiatorinnen und Initiatoren ebenso wie die sich Erinnernden zu fragen, was denn nach gut zwei Jahrzehnten der Sinn solcher Publikation sein kann. Eine selbstgerechte, gar nostalgische Reflexion des Gewesenen konnte nicht in Frage kommen. Auch galt es der Gefahr zu entgehen, mit wachsendem zeitlichem Abstand und angesichts zivilisationsgefährdender Vorgänge im Realkapitalismus realsozialistische Defizite, auch Fehler zu verharmlosen. Es sollte vielmehr anhand von Erfahrungsberichten der Frage nachgegangen werden, ob und wenn ja was aus dem Wirtschaften eines letztlich implodierten Staates heute noch zu lernen, was aufhebenswert ist.

Wenn es nach denen geht, die dem Zeitgeist frönen, dann war da nichts Brauchbares, nichts für die Zukunft Weiterzuentwickelndes. Noch am 4. Februar 2013 verstieg sich z. B. Richard Schröder, Fraktionsvorsitzender der SPD in der am 18. März 1990 gewählten DDR-Volkskammer, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu einem grotesken Urteil über die DDR und ihre Wirtschaft. Der inzwischen an der Humboldt-Universität emeritierte Professor für Philosophie und Theologie bemühte dazu einen Witz, der angeblich in der DDR im Umlauf gewesen sei: „Der Sozialismus hat von allen bisherigen Gesellschaftsordnungen etwas bewahrt: vom Kapitalismus die vielen Krisen, vom Feudalismus die vielen Könige, von der Sklavenhaltergesellschaft den Umgang mit den Menschen und von der Urgemeinschaft die Produktionsmethoden.“ Das ist so hämisch, so dumm, daß ein Kommentar nicht lohnt. Ich erzähle auch mal gern einen Witz, aber für so einen würde ich mich schämen.

Alle, welche die heutigen, gerade im Umgang mit Menschen brutalen kapitalistischen Verhältnisse nicht für das Ende der Geschichte halten, kommen an den Erfahrungen des sozialistischen Versuchs nicht vorbei. Das betrifft das Bewahrenswerte, Weiterzuentwickelnde ebenso wie das nicht Gelungene, auch Fehlerhafte und Falsche. Für den deutschen Philosophen Hegel galt es als Imperativ, beim Start in etwas Neues Vergangenes nicht unbesehen zu entsorgen, sondern an tragfähigen Ansätzen anzuknüpfen und Geleistetes vor dem Vergessen zu bewahren.

Eine Frage bei der Suche nach einer Alternative zum realkapitalistischen Wirtschaften müßte also lauten: Waren Volkseigentum an den Produktionsmitteln und gesamtgesellschaftliche Planung letztlich schuld am Scheitern des sozialistischen Versuchs und darf daher beides in alternativen Zukunftskonzepten keinen Platz mehr haben? Ein „Ja“ wäre nicht nur zu einfach, es wäre falsch.

Erst Volkseigentum an den Produktionsmitteln hat es möglich gemacht, daß wirtschaftliche Tätigkeit zuvorderst eine soziale Funktion hatte, eine Gemeinwohl-, keine einseitig einzelwirtschaftliche Renditeorientierung. Seinen Ausdruck fand das in entlohnter Arbeit für alle, die arbeiten wollten und konnten, in bezahlbarem Zugang zu Energie und Wasser für jedermann, in einem modernen, polytechnisch ausgerichteten Schulsystem. Gewährleistet war das Recht auf eine Lehrstelle für jeden Jugendlichen, auf kostenlose oder kostengünstige Bildungs- und Gesundheitsleistungen für alle. Das Qualifikationsniveau war in der DDR im internationalen Vergleich hervorstechend. Auf 1000 Beschäftigte in volkseigenen und genossenschaftlichen Betrieben entfielen im statistischen Durchschnitt 903 mit einer abgeschlossenen beruflichen Ausbildung. Darunter verfügten 606 über einen Facharbeiterabschluß, 42 über eine Meisterprüfung, 14 über einen Fachschul- und 81 über einen Hochschulabschluß.

Die wichtige Naturressource Grund und Boden war kein Spekulationsobjekt.

Die blinden Kräfte des Marktes waren durch eine angestrebte geplante Entwicklung der Wirtschaft weitgehend ausgeschaltet.

Auf Volkseigentum gründete, daß der Mensch nicht als „Humankapital“ galt, das sich rechnen muß, wie die hochqualifizierten Ingenieure und Facharbeiter in der Sprache neoliberaler Ökonomen heißen.

Und die „roten Wirtschaftskapitäne“ verkörperten mehrheitlich einen eigenen Managertyp. Nicht, weil sie ein ausgeprägtes Improvisationsvermögen besitzen mußten, sich mit dem Dreifachen des Verdienstes ihrer Facharbeiter begnügten und eine ausgeprägte Leidensfähigkeit gegenüber dem diktatorischen Verhalten übergeordneter Partei- und Staatsfunktionäre brauchten. Sie kamen zumeist aus sogenannten bildungsfernen Schichten und waren lebendiger Beweis für das in der DDR gebrochene Bildungsprivileg. In ihrem Führungsstil bevorzugten sie Sozialbeziehungen, in denen Gemeinschaftsgeist, Vertrauen und persönlicher Kontakt eine zentrale Rolle spielten.

Es ist bitter feststellen zu müssen, daß eine Bevölkerungsmehrheit 1989/90 annahm, solche im Laufe der Zeit als selbstverständlich hingenommenen Vorzüge könnten beibehalten, aber durch die begehrte harte Deutsche Mark ergänzt werden.

Woran lag es aber dann, daß das im Volkseigentum und gesamtgesellschaftlicher Planung steckende humane, soziale und auch Effektivitätspotential sich nicht maximal entfalten und dauerhaft stabilisieren konnte?

Dafür gibt es mannigfache Ursachen. Gebremst haben äußere Bedingungen: umfangreiche Reparationsleistungen an die UdSSR in Form von Demontagen und Entnahmen aus der laufenden Produktion, Embargomaßnahmen kapitalistischer Länder, die offene Grenze zum Westen und die Abwanderung hochqualifizierter Männer und Frauen, die Zugehörigkeit zum RGW, einem Verbund wirtschaftlich und technologisch weniger entwickelter sozialistischer Länder.

Dennoch darf die Implosion der DDR nicht allein darauf zurückgeführt werden. Es gab innere, systemeigene Faktoren, die hemmend wirkten und die bei zu entwickelnden Modellen für alternatives Wirtschaften im Blick bleiben müssen:

  • Die nahezu komplette Verstaatlichung des Eigentums an Produktionsmitteln in allen Branchen, die Landwirtschaft ausgenommen, und schließlich Anfang der 70er Jahre bis zur kleinsten Fabrik war nicht begleitet von der realen Verfügung der Produzenten über dieses Eigentum, von demokratischer Mitbestimmung der Belegschaften. Insofern war es kein wirkliches „Volkseigentum“, sondern befand sich weitgehend in der Verfügung von Politbürokraten.
  • Das zentralistische Planungssystem engte die Handlungsspielräume der wirtschaftenden Einheiten stark ein und ignorierte deren eigenständige ökonomische Interessen. Im Unternehmen erarbeitete Gewinne konnten nur sehr eingeschränkt nach Entscheidung der Kombinatsleitung verwendet werden.
  • Ausgeschaltet waren nicht nur die blinden Kräfte des Marktes. Geringgeschätzt bis mißachtet wurden überhaupt Marktkategorien (Wert, Preis, Gewinn, Kredit), statt dessen wurden administrative Surrogate genutzt (Festpreise, Subventionen, ökonomische Hebel, Währungsumrechnungs- und Richtungskoeffizienten). Durch überwiegende Anwendung von Naturalkennziffern waren die wahren Produktionskosten verschleiert. Eine international vergleichbare Wirtschaftlichkeitsrechnung war erschwert.

Die Behebung dieser und weiterer Probleme war Anliegen des Neuen Ökonomischen Systems, das jedoch vor Wirksamwerden abgeblockt wurde. Solche Fehler und Mängel kritisch zu benennen, ist kein Nachtreten, sondern schützt vor Wiederholungen in künftigen linken Gesellschaftskonzepten. Das realsozialistische Eigentums- und Planungsmodell eignet sich nicht als Blaupause für eine Gesellschaft, die eine zukunftsfähige Alternative zum Realkapitalismus ist.

Noch ein Problem: In der ökonomischen Theorie und in der Wirtschaftspolitik der DDR galt wie in anderen realsozialistischen Ländern die Leninsche These, wonach die Arbeitsproduktivität in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende ist für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung. (Die große Initiative. In: Lenin-Werke, Bd. 29, S. 416, Dietz-Verlag, Berlin 1976)

Lenin hatte den Vergleich mit den USA im Auge, deren Produktivität Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts neunmal so hoch war wie die der Sowjetunion. Diesen Maßstab angelegt, hat auf deutschem Boden das kapitalistische System zunächst gesiegt. In der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ sprach man ernsthaft davon, daß die volkswirtschaftliche Arbeitsproduktivität in der DDR etwa 30 Prozent oder sogar noch weniger als jene der BRD betragen habe. Die amtliche Statistik der DDR hat 1989 einen Stand von 60 Prozent ausgewiesen. Der Streit um Prozente ist inzwischen müßig. Daß es einen beachtlichen Abstand gab, ist bezogen auf die gesamte Volkswirtschaft nicht zu bestreiten, im Vergleich mancher Branchen oder Unternehmen konnte das durchaus anders aussehen.

Doch taugt die Gegenüberstellung nackter Zahlen, um ein für alle Mal das prinzipielle Versagen einer auf Gemeineigentum und Planung beruhenden Wirtschaftsweise zu belegen, oder kann sie als Endbeweis für die Überlegenheit privatkapitalistischen Wirtschaftens gelten? Nein! Außer Betracht bleiben dürfen erstens nicht historische, entwicklungsbedingte Umstände, die – bezogen auf die DDR – eingangs bereits erwähnt wurden. Zweitens aber gab es zweifellos Mängel und Fehler im praktizierten Eigentums- und Planungsmodell, die unmittelbar zu Produktivitätseinbußen führten.

Der Preis als grundlegender Faktor des Wirtschaftsgeschehens widerspiegelte nicht den Wert, also den Aufwand an lebendiger und vergegenständlichter Arbeit. Er wurde künstlich nachgebildet und verlor damit sein Wesen als einheitlicher Wertmaßstab.

In der Entlohnung dominierte Gleichmacherei. Es fehlte an systemkonformen Triebkräften, die denen von Profitgier und Existenzangst im Kapitalismus überlegen waren.

Zu Einbußen an Kreativität und Flexibilität sowie an Wertschöpfung in den Regionen kam es, als die restlichen kleinen und mittleren privaten und halbstaatlichen Betriebe Anfang der 70er Jahre in die Kombinate gepreßt wurden. Damit wurden auch Freiräume für die Lebensgestaltung nach individuellen Vorstellungen eingeschränkt.

Das Fehlen eines Marktes für Dienstleistungen führte dazu, daß jedes Kombinat selbst für den entsprechenden Zugang sorgte und unter seinem Dach Bauabteilungen und Fuhrparks ansiedelte, Kantinen, Kultureinrichtungen und Ferienlager vorhielt.

Aber: Muß nicht auch die Leninsche Meßlatte für den Systemwettbewerb hinterfragt werden? Ist diese nicht nur auf den Produktionsumfang und letztlich das Nacheifern kapitalistischer Praktiken fokussiert? Sie sagt doch nichts darüber aus, wem die neu geschöpften Werte zugute kommen, wie sie verteilt werden, darüber, ob sie parasitär, zum Beispiel für Rüstungsausgaben, Prestigeobjekte und ähnliches oder sozial und ökologisch zukunftsorientiert verwendet werden. Es fehlte und fehlt zum Teil bis heute die Antwort auf die Frage: Wie wollen wir leben? Welche Werte sind uns wichtig?

Die Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer verfügen inzwischen über Erfahrungen zweier Gesellschaftssysteme. Unterschiedliche Erfahrungen sind kein Mangel, kein Manko, sondern eine Bereicherung. Mit dem Heben von Erfahrungen der DDR-Wirtschaftslenker begonnen zu haben, ist ein zu würdigendes Verdienst des Unternehmens Rohnstock-Biographien und des Vereins zur Förderung lebensgeschichtlichen Erinnerns und biographischen Erzählens. Auf die öffentliche Resonanz darf man gespannt sein.

Einführungsvortrag auf der Tagung zur Übergabe des Buches „Jetzt reden wir“ am 8. Dezember 2013