RotFuchs 208 – Mai 2015

Was die HVA schon lange vor
Edward Snowdens Enthüllungen wußte

Klassenkampf mit elektronischen Waffen

Bernd Gutte

Als ich unlängst mit einer Besuchergruppe den Bundestag besichtigte, wurde viel Demokratie und Souveränität propagiert. Der Erklärer geriet ins Schwärmen darüber, wie hier der Wille aller Bürger vertreten werde und sich zu politischen Entscheidungen kristallisiere. „Einzug fand das“, schloß er den Vortrag, „in die neue Architektur. Mit der gläsernen Kuppel“ – dabei hob er Stimme und Arme –, „in der Sie die Besucher wandeln sehen, sollen die Abgeordneten immer an den wahren Souverän über ihnen erinnert werden!“ Also stieg ich denen aufs Dach, ohne daß einer von ihnen nach oben geschaut hätte. So blickte ich auf die USA-Botschaft mir gegenüber und auf die verblendete Dachetage. Da waren mir alle Sätze vom großen Volkssouverän aus dem Kopf geblasen, was nicht nur am frischen Wind lag, der hier oben wehte.

Erneut kam ich angesichts der knallerbsengroßen Kugeln, die sich am Horizont vom Teufelsberg zeigten, ins Grübeln. Sie waren auf jener Anhöhe stationiert, welche die Amis einst als „letzten Hügel vor Moskau“ bezeichnet hatten. Von dort aus betrieben sie während des Kalten Krieges ihre „Field Station Berlin“. Es handelte sich dabei um ein Abhörzentrum, das von der BRD durch Zuwendungen in Höhe von 300 Millionen DM mitfinanziert wurde. Seine „Ohren“ reichten wirklich fast bis nach Moskau, nahmen aber auch Westberlin und Westdeutschland ins Visier.

Allerhöchste Zeit, sagte ich mir, endlich Klaus Eichners Buch über die elektronische Kriegführung der USA und der NATO zu lesen. Der Autor war als Analytiker der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit auf die Geheimdienste der Vereinigten Staaten spezialisiert. Ein Experte also, an dem ob seines umfangreichen Insiderwissens mittlerweile auch sogenannte Leitmedien nicht vorbeikommen. Er ist zugleich ein gefragter Gesprächspartner bei zahlreichen Veranstaltungen des RF.

Dort, wie im Buch, macht er klar, daß die Aufklärung der DDR über die NSA-Überwachungsmaßnahmen und die Aktivitäten anderer US-Geheimdienste lange vor den Enthüllungen von Edward Snowden gut informiert war. Das Wissen darüber betraf nicht nur die Field Station auf dem Berliner Teufelsberg, sondern auch NSA-Großstationen wie jene in Augsburg-Gablingen oder Bad Aibling. Der Grund für solche Umsicht lag auf der Hand: „Der Klassengegner war kein Hirngespinst, sondern arbeitete sehr real gegen die DDR.“

Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der PDL-Fraktion im Januar dieses Jahres geht hervor: Westdeutsche Dienste haben zwischen 1946 und dem April 1990 mindestens 71 500 DDR-Bürger ausspioniert. Hans Modrow, Ministerpräsident der Noch-DDR, wurde vom BND seit 1958 beobachtet. Erst im März 2013 endete das Interesse des Verfassungsschutzes an dem SED-Politiker, langjährigen Bundestagsabgeordneten und früheren Mitglied des Europaparlaments.

Aber mußten selbst die eigenen Verbündeten ins Visier genommen werden? In den 80er Jahren lieferte eine Quelle der HVA den „Wunschzettel“ von NSA & Co., die „National SIGINT Requirement List“, die etwa 10 Aktenordner füllte. Unschwer war dort herauszulesen, daß sich die US-Geheimdienste für jedes Land der Welt interessieren. Die damaligen Schnüffelziele in der BRD füllten allein 35 Seiten! Und auch dem Bonner Auslandsnachrichtendienst BND oblag nicht nur das Belauschen der „Ostblock“-Staaten.

Eichner serviert eine „Delikatesse“: Unter dieser Deckbezeichnung nutzte der BRD seit 1975 in Zusammenarbeit mit dem spanischen Geheimdienst ein Objekt an der Mittelmeerküste zur massenhaften Erfassung von Informationen, die über transatlantische Unterseekabel liefen. Diesen Weg dürften wohl kaum Berichte der Warschauer Vertragsstaaten genommen haben. Erschreckend ist, was schon Anfang 1986 dem Pentagon und den US-Geheimdiensten zur Aufgabe gestellt wurde: Alle Möglichkeiten des modernen Kampfes mit elektronischen Mitteln zu prüfen, um einen atomaren Enthauptungsschlag gegen die Leitzentralen der UdSSR und des Warschauer Vertrages führen zu können. Es war der Auftakt für die Kriegführung im elektronischen Raum. Eichner nennt den Cyberspace die fünfte strategische Dimension neben Land, Luft, See und Weltall – heute längst eine Realität. Auch dort wollen die USA ihre Hegemonie aufrechterhalten – mit unvorhersehbaren Folgen!

Das reich bebilderte Buch liest sich wie ein Spionagethriller. So, wenn die Werbung von Quellen und die Arbeit mit ihnen geschildert wird. Eine arbeitete zunächst auf dem Westberliner Teufelsberg der Amis und später in Frankfurt am Main. Eine andere, von der im Buch die Rede ist, saß in einem Objekt der U.S. Air Force in Berlin-Marienfelde. Beide mußten nach ihrer Enttarnung langjährige Haftstrafen absitzen, wobei die USA in einem Fall auch vor der gewaltsamen Entführung des ehemaligen Aufklärers nicht zurückschreckten, ohne sich darum zu scheren, daß dieser mittlerweile Bürger der BRD war. Ein Akt der Verletzung der Souveränität der Bundesrepublik! Doch ein Protest dagegen blieb aus.

Auch anläßlich der Snowden-Enthüllungen geht es Klaus Eichner niemals um ein „Ätsch, das haben wir längst gewußt!“ Das Wissen der HV A zu diesem Komplex war aktenkundig. Es wurde von keinem Reißwolf zerrissen, so daß es auch die neuen Machthaber auf dem Tisch hatten. Um so peinlicher war die zur Schau gestellte Betroffenheit nach den Enthüllungen der Whistleblower. Ausführlich wird in dem Buch geschildert, wie mit den Dokumenten umgegangen wurde, welche das Ausspionieren auch der BRD durch die USA belegten. Nach Eichners Informationen, „wurden diese Dokumente durch die Geheimschutzstelle des Bundesinnenministeriums aus der damaligen Gauck-Behörde abgezogen, um sie direkt an die USA auszuliefern.“ Selbst wenn eine „ersatzlose Herausgabe“ solcher Unterlagen, nach BRD-Rechtsauffassung vertretbar wäre, hätte die Behörde in ihrem Tätigkeitsbericht an den Deutschen Bundestag solche brisanten Aktionen darstellen müssen. Doch der Souverän blieb blind.

Eichner zieht das Fazit: „Die Überwachung der deutschen Telekommunikation durch die NSA ist nicht der Kern des Problems, sondern der imperiale Drang der Großmacht USA, ihren globalen Herrschaftsanspruch mit Hilfe der NSA im elektronischen Krieg gegen Feind wie Freund durchzusetzen.“

Klaus Eichner:

Imperium ohne Rätsel
Was bereits die DDR-Aufklärung über die NSA wußte

Edition Ost, Berlin 2014, 128 Seiten
ISBN 978-3-360-01864-9

9,99 Euro