RotFuchs 224 – September 2016

WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG

Marx’ Lebensweg bis zur Ausarbeitung
des Kommunistischen Manifests - 3. Teil und Schluß

RotFuchs-Redaktion

Seit Mitte der 60er-Jahre hat der damalige „Deutschlandsender“ (später umbenannt in „Stimme der DDR“) eine auch in Westdeutschland gehörte und beachtete Sendereihe mit Vorträgen zu Fragen unserer wissenschaftlichen Weltanschauung ausgestrahlt, deren Manuskripte sich erhalten haben und die wir den Lesern des „RotFuchs“ in einer Auswahl zur Verfügung stellen – inhaltlich wurde nichts verändert, von unumgänglichen Kürzungen abgesehen. Man kann diese Vorträge lesen als Kapitel eines Geschichtsbuchs (dazu auch immer die Angabe des seinerzeitigen Sendetermins) und zugleich als Einführung in die Grundlagen marxistisch-leninistischen Denkens. Viele auch in den Vorträgen zum Ausdruck kommende Hoffnungen haben sich mit und nach der Konterrevolution von 1989/90 zerschlagen, manche Prognosen haben den Praxistest nicht bestanden. Wesentliche Erkenntnisse von Marx, Engels, Lenin und anderen unserer Theoretiker aber haben nach wie vor Bestand, an ihnen halten wir (gelegentlich deswegen als Ewiggestrige beschimpft) fest, sie wollen wir – auch mit dieser Serie – vermitteln.

Sendetermin: 7. Mai 1968

Im Mittelpunkt der heutigen Folge steht die nun in Gemeinschaft mit Friedrich Engels von Marx vorgenommene Erarbeitung der Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus in den Jahren 1844 bis 1848, die in der Verschmelzung von Arbeiterbewegung und wissenschaftlicher Theorie, in der Gründung der ersten revolutionären Arbeiterpartei in der Geschichte, im Bund der Kommunisten, einen Höhepunkt fand.

Zuvor aber noch einige biographische Details. Marx und seine junge Frau hatten in Paris in der Rue Vanneau Quartier genommen. Im selben Hause lebte auch der deutsche Emigrant German Maurer, ein Kommunist, der Marx in die geheimen Gesellschaften der Pariser Arbeiter einführte.

Das junge Paar war reich an Freunden, aber nicht an reichen Freunden. Bei ihm verkehrte der ebenfalls in Paris im Exil lebende deutsche Dichter Heinrich Heine, den bald nicht nur Hochachtung und Verehrung, sondern Freundschaft mit Karl Marx verband.

Gemeinsam mit Engels arbeitete Marx in den folgenden zwei Jahren in der 1845 erschienenen „Heiligen Familie“ und in dem damals unveröffentlicht gebliebenen Manuskript „Die deutsche Ideologie“ die Grundzüge des dialektischen und historischen Materialismus, der wissenschaftlichen Weltanschauung des Proletariats, aus. Charakteristisch für ihre Arbeitsweise war, daß sich Marx und Engels sowohl mit den Errungenschaften der internationalen Wissenschaft, vor allem der klassischen deutschen Philosophie, der klassischen englischen Ökonomie und den französischen Lehren vom Klassenkampf und vom Sozialismus als auch mit den im Klassenkampf gesammelten Erfahrungen der englischen, französischen und deutschen Arbeiter kritisch auseinandersetzten. Den Beitrag jedes Volkes zur Weltkultur zu berücksichtigen und zu würdigen, war für Marx zeitlebens ein selbstverständliches Gebot des echten Wissenschaftlers und Humanisten.

Das läßt auch „Die heilige Familie“ erkennen. Der eigenartige Titel des Buches rührt übrigens daher, daß Marx scherzhaft die Gebrüder Bauer, seine einstigen Gesinnungsfreunde als Junghegelianer, als „Heilige Familie“ bezeichnete, und das deshalb, weil sie sich als Gralshüter des Hegelianismus aufspielten.

In ihrem Buch bemühten sich Marx und Engels um den Nachweis, daß weder übernatürliche Mächte noch das menschliche Bewußtsein, noch „Helden“ Geschichte machen, sondern allein die werktätigen Massen durch ihre Arbeit und ihren politischen Kampf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft vorantreiben. All jenen aber, die damals unter Verweis auf das unentwickelte Klassenbewußtsein des Proletariats die historische Mission der Arbeiterklasse in Zweifel zogen, antwortete Marx: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“[1] In der ökonomischen und sozialen Stellung, die das Proletariat in der kapitalistischen Gesellschaft einnimmt, erkannte Marx die entscheidende objektive Ursache für die revolutionäre Befreiungsmission der Arbeiterklasse. So verwandelte Marx die Idee des Sozialismus aus einer Utopie in eine Wissenschaft.

Dem gleichen Ziel diente „Die deutsche Ideologie“, in der sich die beiden Freunde mit den verschiedenen Varianten des damals in Deutschland herrschenden philosophischen Idealismus, aber auch mit den Schwächen des Feuerbachschen Materialismus auseinandersetzten. Wie aus jedem echten wissenschaftlichen Meinungsstreit entstanden auch aus dieser Polemik neue Erkenntnisse, nämlich die Grundzüge der materialistischen Dialektik. Marx hat die damit erreichte völlig neue Qualität des philosophischen Denkens in einer der damals niedergeschriebenen „Thesen über Feuerbach“ so formuliert: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“[2] In diesem kurzen Satz steckte, um mit Engels zu sprechen, „der geniale Keim der neuen Weltanschauung“.[3]

In ihrem mehrere hundert Seiten umfassenden Manuskript erläuterten die beiden Freunde, warum sowohl philosophische, historische und andere Ideen als auch politische Verhältnisse und Staatsformen als auch die gesamte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in letzter Instanz ihre Wurzel in den ökonomischen Verhältnissen haben, in denen die Menschen leben, in der Entwicklung materieller Kräfte, der Produktivkräfte. Marx und Engels wiesen nach, daß zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen ein gesetzmäßiger Zusammenhang und eine Wechselwirkung besteht, daß die Produktivkräfte der Gesellschaft auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung zu den vorhandenen Produktionsverhältnissen in Widerspruch geraten und sodann eine Epoche sozialer Revolutionen eintritt, in deren Verlauf sich mit der ökonomischen Basis auch der gesamte Überbau mehr oder weniger schnell umwälzt.

Mit dieser materialistisch-dialektischen Geschichtsauffassung war Marx und Engels die gültige Antwort auf die wichtigsten jener geschichtsphilosophischen Fragen gelungen, die frühere Philosophen und Gesellschaftstheoretiker zwar gestellt hatten, aber nicht beantworten konnten. Zum ersten Mal hatten Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ das Wesen des Klassenkampfes in der modernen Gesellschaft analysiert und vor allem die historische Rolle des Proletariats begründet, „durch eine Revolution, in der … die Macht der bisherigen Produktions- und Verkehrsweise und gesellschaftlichen Gliederung gestürzt wird“[4], die politische Macht zu erobern.

Marx war inzwischen, Anfang 1845, auf Betreiben der preußischen Regierung aus Frankreich ausgewiesen worden und hatte sich mit seiner Frau und dem neun Monate alten Töchterchen Jenny in Brüssel niedergelassen. Für ihn verband sich das Streben nach Erkenntnis der wissenschaftlichen Wahrheit so unlöslich mit dem Befreiungskampf der arbeitenden Massen, wie das bei keinem der großen Denker früherer Zeiten der Fall war. Deshalb konzentrierte er sich neben seiner wissenschaftlichen Arbeit darauf, durch enge Kontakte mit Arbeiterorganisationen und progressiven Intellektuellen in verschiedenen Ländern die von ihm gemeinsam mit Engels erarbeiteten theoretischen Erkenntnisse, den wissenschaftlichen Sozialismus, mit der Arbeiterbewegung zu verbinden. Diese Aufgabe, die dank der glücklichen Kombination von subjektiven Voraussetzungen und objektiver historischer Notwendigkeit in so erstaunlich kurzer Frist verwirklicht werden konnte, wurde unter der Führung von Marx und Engels erstmalig vollbracht durch die 1847 erfolgte Schaffung der ersten revolutionären Partei der Arbeiterklasse.

Hier in Brüssel traf Marx auch mit Ferdinand Freiligrath, dem Sänger der herannahenden Revolution, und mit Georg Weerth, dem ersten Dichter des deutschen Proletariats, zusammen.

Marx und Engels gingen in ihrem Bemühen, die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus mit der Arbeiterbewegung zu verbinden, nicht von irrealen Wunschvorstellungen aus, sondern sie knüpften an das an, was bereits vorhanden war, und vertrauten fest darauf, daß sich unter den fortgeschrittenen Teilen der europäischen und zunächst vor allem der deutschen Arbeiterklasse die Wahrheit des wissenschaftlichen Sozialismus gegenüber vorhandenen unwissenschaftlichen Auffassungen durchsetzen werde. Um diesen Klärungsprozeß zu leiten und zu beschleunigen, gründeten sie zusammen mit einigen Gesinnungsgenossen in Brüssel ein Kommunistisches Korrespondenz-Komitee. Durch Korrespondenz mit den in mehreren Länden bestehenden verschiedenen Gruppen der sozialistischen und kommunistischen Bewegung begannen sie, Erfahrungen und Meinungen auszutauschen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verbreiten und zur Diskussion zu stellen und den Einfluß der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie unter den fortgeschrittensten Arbeitern zurückzudrängen.

Besonders wichtig war, daß auch die in Paris und ab Herbst 1846 in London wirkenden Leiter des Bundes der Gerechten Verbindung mit Marx und Engels aufnahmen und dadurch deren wissenschaftlichen Erkenntnissen Eingang in die Bundesorganisation verschafften. Die in London, Paris und anderen französischen, deutschen, belgischen, Schweizer und skandinavischen Städten im Geheimen wirkenden Bundesmitglieder hatten sowohl die für den Aufstand einer kleinen Minderheit berechneten Theorien August Blanquis als auch den sogenannten friedlichen Kommunismus Etienne Cabets verworfen. Sie hatten sich auch vom utopischen Arbeiterkommunismus Wilhelm Weitlings, der den konkreten Weg zum Sturz der verhaßten kapitalistischen Ausbeuterordnung nicht zu weisen vermochte, vom kleinbürgerlichen „wahren“ Sozialismus und vom Proudhonismus, die den Kapitalismus nicht stürzen, sondern reformieren wollten, distanziert. Dieser von harten Auseinandersetzungen begleitete Klärungsprozeß überzeugte die Führer des Bundes der Gerechten schließlich von der Richtigkeit der Marxschen Auffassungsweise. Im Frühjahr 1847 schickten sie einen Emissär zu Marx und Engels und forderten sie auf, dem Bund beizutreten, an seiner Reorganisation mitzuwirken und auf einem Kongreß ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse darzulegen.

Marx und Engels sahen ihr jahrelanges Bemühen, Philosophie und Proletariat, den wissenschaftlichen Sozialismus und die Arbeiterbewegung miteinander zu verbinden, von Erfolg gekrönt. Sie schlugen in die dargebotene Hand ein. Marx widmete sich nun mit voller Kraft der Reorganisation des Bundes, die auf zwei Bundeskongressen 1847 in London vollzogen wurde. Unter führender Mitwirkung von Marx gab sich der Bund einen neuen Namen: „Bund der Kommunisten“ und ersetzte die alte Bundeslosung „Alle Menschen sind Brüder“ durch den neuen Schlachtruf „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, der den proletarischen und internationalistischen Charakter des Kampfes offen proklamierte. Die Kongreßdelegierten nahmen nach gründlicher Diskussion im gesamten Bund ein neues, auf dem demokratischen Zentralismus basierendes Statut an, in dem als Zweck und Ziel des Bundes „der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum“[5] erklärt wurden.

Mit diesen Beschlüssen war die unter unmittelbarer führender Mitwirkung von Marx erfolgte Gründung der ersten revolutionären und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerüsteten Partei der Arbeiterklasse abgeschlossen. Der Bund der Kommunisten war seinem Programm und seiner Zusammensetzung nach sowohl eine internationale Organisation der Arbeiterklasse als auch die erste deutsche Arbeiterpartei. Zählte er auch nur einige hundert, höchstens fünfhundert Mitglieder, so wurde mit ihm doch der Grundstein gelegt für die gesamte weitere Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung. Mit dem Bund der Kommunisten verwirklichten Marx und Engels zum ersten Mal einen der zentralen Gedanken des wissenschaftlichen Sozialismus: „Damit am Tag der Entscheidung das Proletariat stark genug ist zu siegen, ist es nötig …, daß es eine besondre Partei bildet, getrennt von allen andern und ihnen entgegengesetzt, eine selbstbewußte Klassenpartei.“[6]

Westdeutsche Historiker bemühen sich seit langem, die historische Tatsache zu leugnen oder zu entstellen, daß am Beginn der deutschen Arbeiterbewegung Marx und Engels und das Kommunistische Manifest standen. Sie wollen die wirkliche Geschichte der Arbeiterbewegung vom Bund der Kommunisten über die Internationale Arbeiterassoziation und die Eisenacher Partei bis zur Durchsetzung des Marxismus in der revolutionären deutschen Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts als eine von den Kommunisten erfundene „Marx-Legende“ abtun. Statt dessen bemühen sie sich, den bürgerlichen Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung zu verabsolutieren und innerhalb der Arbeiterbewegung die elementaren und die reformistischen Tendenzen als die bestimmenden auszugeben. Damit soll der revolutionäre, marxistische Ursprung der internationalen und der deutschen Arbeiterbewegung, der im Bund der Kommunisten besteht, geleugnet werden.

Die der geschichtlichen Wahrheit widersprechende historisch-politische Zielstellung dieser Historiker ist ganz eindeutig: Indem man den Kampf von Marx und Engels um die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Marxismus verfälscht, wird eine selbständige Klassenpartei als unnötig, ja, als Widerspruch zur Integration der Arbeiterklasse in die kapitalistische Gesellschaft ausgegeben. So entsteht in der Retorte eine Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ohne Marxismus und ohne revolutionäre Partei, eine Geschichte der Arbeiterbewegung, in der Reformisten, Revisionisten und schließlich Kollaborateure des Imperialismus die eigentlichen Helden und Traditionsträger sind.

Nach Beendigung des zweiten Kongresses des Bundes der Kommunisten kehrte Marx nach Brüssel zurück und arbeitete gemeinsam mit Engels, der sich damals in Paris aufhielt, das „Manifest der Kommunistischen Partei“ aus. Ende Februar 1848 erschien es in einer kleinen Londoner Arbeiterdruckerei in der Liverpool Street im Stadtteil Bishopsgate.

Mancher mag sich fragen, ob es Zufall war, daß der wissenschaftliche Sozialismus von Deutschen ausgearbeitet wurde. Um die Mitte der vierziger Jahre hatte der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat alle kapitalistisch fortgeschrittenen Länder Europas erfaßt. Auch in Deutschland hatte die industrielle Revolution begonnen, war der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat bereits in blutigen Auseinandersetzungen offen zutage getreten. Aber in Deutschland – wie auch in anderen wichtigen europäischen Staaten – herrschte noch die Feudalklasse. Sie mußte zunächst durch eine bürgerliche Revolution gestürzt werden. So waren in Deutschland die inneren Widersprüche der gesamten europäischen Gesellschaft und damit die Voraussetzungen für eine Revolution am weitesten herangereift. Diese gesellschaftlichen Widersprüche, die ihrem Wesen nach weder spezifisch deutsch noch englisch, noch französisch waren, sondern Widersprüche, die auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung überall in der Welt auftraten und auftreten, verlangten gebieterisch nach einer theoretischen Antwort. Das „Manifest der Kommunistischen Partei“ gab diese Antwort.

Anmerkungen:

  1. Friedrich Engels/Karl Marx: Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik,
    in: MEW, Bd. 2, S. 38
  2. Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW, Bd. 3, S. 7
  3. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, S. 264
  4. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 68
  5. Statuten des Bundes der Kommunisten, in: MEW, Bd. 4, S. 596
  6. Engels an Gerson Trier, 18. Dezember 1889, in: MEW, Bd. 37, S. 326