RotFuchs 203 – Dezember 2014

Compañera Christa: Für junge und junggebliebene RotFüchse

Meine Kinderbücher landeten auf dem Müll

Christa Kožik

In einer Wegwerfgesellschaft wird alles zur Wegwerfware. Auch Menschen und Bücher. Bitter zeigte sich das für uns Schriftsteller der DDR in den Jahren 1990/91. Aus geachteten Autoren wurden plötzlich „Müll-Literaten“. Das war keine Qualitäts-, sondern eine Markt- und Machtfrage. Die unliebsamen Bücher aus dem verlorenen Land DDR kamen zu Hunderttausenden auf die Müllhalden. Unwerte Literatur, unwerte Literaten. Unter den weggeworfenen befanden sich auch meine Bücher, zum Teil in kompletten Nachauflagen bis zu 20 000 Exemplaren, so auch „Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“, „Moritz in der Litfaßsäule“ und „Ein Schneemann für Afrika“. Die Verlage hatten gehofft, mit Nachauflagen beliebter Titel zu überleben. Doch der große Ausverkauf erwischte auch sie. Auf der Müllhalde lag man in bester Gesellschaft. Nicht nur neben geachteten DDR-Kollegen, sondern auch im Kreis von Weltliteraten, deren Werke in DDR-Verlagen gedruckt worden waren. Eine brutale Art von Zensur! Wegwerfen oder Verbrennen – wo ist da der Unterschied? Der Schock saß tief.

Als ich von Dr. Martin Weskott vor einigen Jahren nach Katlenburg eingeladen wurde, um in der Reihe „Literaten von der Müllhalde“ zu lesen, war mir das eine Ehre. Ich hatte aus Zeitungen von diesem aufrechten Mann erfahren, der in selbstloser Art Hunderttausende DDR-Bücher von den Müllhalden rettete, um sie im Rahmen der Aktion „Brot für die Welt“ nutzen zu können. Bücher zu Brot – das war eine wahrhaft urchristliche Tat.

Zum Glück ist das Gedächtnis des Volkes nicht auszulöschen. „Was einmal war, bleibt in der Welt.“ Hölderlins Worte sehe ich als Hoffnung, denn verbittert will ich nicht sein. Neben meiner Tätigkeit als Schriftstellerin war ich fest angestellte Filmautorin im DEFA-Studio Potsdam-Babelsberg. Zum 1. Januar 1991 bekam ich zusammen mit Tausenden anderen Mitarbeitern die Entlassung. Das war mein 50. Geburtstag! Geschenk der Neuen Herrlichkeit nannte ich das. Im Treuhandpapier zur Abwicklung des künstlerischen Großbetriebes DEFA-Studio für Spielfilme stand zynisch: „Die Immobilien müssen entsorgt werden.“ Wir wurden gleich mit entsorgt. Und damit begannen die Sorgen. Ein Knecht der Treuhand, ein bekannter Filmregisseur, rief den Entlassenen in der Presse hinterher: „Die DEFA riecht nicht gut.“ Unsere Filme aus vierzig Jahren hatten die neuen Herren gar nicht erst gesehen.

Ich mußte Geld verdienen, denn uns drohte eine Hausvertreibung, die wir nur dadurch verhindern konnten, daß wir unser einst gekauftes Haus noch einmal bezahlen mußten.

So wurde ich Vorleserin meiner Bücher. Zum Glück bekam ich viele Einladungen in Schulen und Kinderbibliotheken, von Flensburg bis St. Gallen, von Frankfurt/Oder bis Frankfurt/Main. Vorleserin ist ein schöner, sinnvoller Beruf. Man erreicht seine Zuhörer hautnah und kann mit leisen poetisch-humanistischen Geschichten etwas gegen die Verblödungsmaschine Fernsehen und andere immer brutaler und primitiver werdende Medien tun. Aber es ist Schwerstarbeit, denn die Waffen sind ungleich: Vogelschleuder gegen Rakete.

Was ich auf diesen Fahrten durchs verlorene Land, in Zügen, auf Bahnhöfen und Straßen, in Schulen, Kinderbibliotheken und Hotels erlebte, werde ich irgendwann aufschreiben und es „Die Einsamkeit der Vorleserin“ nennen. „Blühende Landschaften“ waren nur wenige zu entdecken, wohl aber einst idyllische Täler, zugebaut mit Supermärkten, Autohäusern und Baumärkten. Und ich sah die brachliegenden Areale der Großindustrie, „entsorgt“ von den überflüssigen Arbeitern. Die Knechte und Mägde der Treuhand mit den gierigen Händen teilten das Eigentum meines Volkes unter sich auf und verbreiteten Schimpf und Schande über alles, um ihr mieses Werk schönzureden.

Ich sah geschlossene Kulturhäuser, Bibliotheken, Kindereinrichtungen und Jugendklubs. Zunehmend spürbar war für mich bei den Lesungen, daß die Kinder als Spiegelbilder der Gesellschaft aggressiver als früher auf mich wirkten und kaum noch zuhören konnten. Viele waren verhaltensgestört, vor allem in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit. Mir fielen auch Klassenstärken von mehr als dreißig Kindern auf – eine Folge der Massenentlassung von DDR-Lehrern nach der „Wende“. Das wochen-, monate- und jahrelange Herumreisen spielte mich kaputt. Körperliche und nervliche Zusammenbrüche häuften sich und ließen mich kaum noch kreativ sein. Bücherschreiben war zur Liebhaberei geworden. Ich fühlte mich wie in eine Falle geraten und landete nach zehn Jahren in der Nervenklinik. Dort hatte ich Zeit, über alles nachzudenken.

Warum ist in den letzten 25 Jahren so viel geistiges Blut geflossen? Warum werden so viel Lügen und Verleumdungen gegen ein Land aufgehäuft, das eine gerechte, solidarische Gesellschaft für alle Menschen angestrebt hatte?

Nennt sich das Vereinigungs- und Entspannungspolitik, wenn Tag für Tag aus fast sämtlichen Medien die Lüge vom „Unrechtsstaat DDR“ verkündet wird – bis hin zum Bundespräsidenten? Immer wieder sät man nur Haß. Horrorgeschichten werden aufgewärmt, Dinge aufgebauscht oder totgeschwiegen, damit die jüngeren Generationen sich kein objektives Bild von der DDR machen können. Wann endlich wird man uns, die wir den Sozialismus wollen, als Andersdenkende akzeptieren?

Warum können Ost- und Westdeutsche nicht mit selbstverständlicher gegenseitiger Achtung einander begegnen, um gemeinsam für eine gerechtere, friedlichere Gesellschaft zu wirken?

Vom Staat DDR soll nichts übrigbleiben, außer „Stasi“ und Mauer. Während sich Wolf Biermann, an dessen Haltung sich 1976 die Geister schieden, dem Kapital andient, wurden aufrechte Schriftsteller der DDR wie Christa Wolf, Stefan Heym, Stefan Hermlin und andere von geistigen Scharfrichtern der „Neuen Herrlichkeit“ öffentlich an den Pranger gestellt. Das aber, was wir geschaffen haben, ist in der Welt und wird bleiben – als künstlerischer wie als dokumentarischer Ausdruck unserer Zeit.

Warum wurde ein Volk, das sich vom Rausch vermeintlich grenzenloser Freiheit und der D-Mark blenden ließ und einen besseren Sozialismus wollte, derart abgestraft? Massenarbeitslosigkeit, ein ungleiches Lohn- und Rentengefüge, Kinderarmut, Obdachlosigkeit, Existenzangst so vieler Menschen, die durch wuchernde Mieten und Preissteigerungen ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können und sich deshalb umbringen – das alles kannten wir nicht.

Der Baum DDR wurde gefällt, die Wurzeln aber bleiben.