RotFuchs 224 – September 2016

Schriftsteller der Welt
für den Frieden der Welt

Prof. Jürgen Kuczynski

Im Vorwort eines 1983 sowohl in der DDR (Mitteldeutscher Verlag) als auch in der BRD (Röderberg-Verlag) erschienenen Buches schreiben die Herausgeber:

„Frieden ist das Thema unseres so oft durch Kriege erschütterten Jahrhunderts. Unübersehbar ist die Zahl der Schriftsteller, die in den zurückliegenden Jahrzehnten dieses Thema zu dem ihren machten und sich für die Erhaltung des Friedens einsetzten. Vielstimmig und vielsprachig reicht ihr Ruf von Romain Rolland, Maxim Gorki und Rafael Alberti über Bertolt Brecht, Konstantin Simonow und Pablo Neruda bis in unsere Tage.

Den Frieden verteidigen bedeutet in der Konsequenz, jenen in den Arm zu fallen, die allein am Kriege verdienen. In dieser Absicht vereinigen sich heute Millionen von Menschen aller Länder, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft und Erfahrung in antiimperialistischer Solidarität. Zu ihnen gehören auch Schriftsteller, die ihr Wort als Waffe im Kampf gegen den Krieg erheben.

Dies Buch vereint Worte von Schriftstellern der ganzen Welt, die zum Lobe des Friedens, in Sorge um die Erhaltung und Bewahrung des Friedens und zur Ermutigung der gegen den Krieg Kämpfenden geschrieben und gesprochen wurden. Möge es dazu beitragen, uns dem Triumph des Friedens über den Krieg näherzubringen!“

Leider ist die Kriegsgefahr wieder groß, und es scheint nötig, alle Stimmen gegen den Krieg (aktuelle und solche von gestern) zu verbreiten und zu propagieren, bevor es dafür zu spät ist.

Der marxistische Historiker und Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski (1904–1997) schrieb seinerzeit eine ausführliche Rezension, die wir – nur geringfügig gekürzt – hier dokumentieren.

Ostermarsch Rhein-Ruhr 2016

Ostermarsch Rhein-Ruhr 2016 / Foto: U. Bitzel ‒ r-mediabase.eu

Als mich die „neue deutsche literatur“ bat, mich zu der Anthologie „Die Taubenfeder. Schriftsteller der Welt für den Frieden der Welt“ zu äußern, sagte ich selbstverständlich zu – einfach aus einem Pflichtgefühl heraus unserer und der Weltfriedensbewegung gegenüber. Doch aus der Übernahme einer Pflicht wurde ein großes Erlebnis.

Schon auf der ersten Seite, nach den kurz einleitenden Worten der Herausgeber, berührte mich, wie schon so oft, die treffliche Wiedergabe der von einem Bajonett durchstochenen Taube von John Heartfield. Mag die Taube Picassos zu einem Symbol geworden sein – Anna Seghers hat ihr eine kleine Erzählung gewidmet, die auch in den Band aufgenommen worden ist –, die Taube von Jonny greift einem ans Herz, und immer wieder ist man erschüttert. Der Band ist in zehn Teile gegliedert. Der erste umfaßt die Zeit vom ersten bis zum zweiten Weltkrieg; der zweite im allgemeinen die Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg und die fünfziger Jahre – und so geht es chronologisch weiter mit internationalen Friedenskongressen und Schriftstellertreffen bis zum Jahre 1982. Rolland und Barbusse, Gorki, Tucholsky, Weinert, Kisch, Becher, Renn, Alexej Tolstoi, Feuchtwanger, Heinrich und Thomas Mann, Eluard und Aragon – so viele aus alter Zeit sprechen zu uns. Klug sind ihre Worte, sehr durchdacht, doch selten ganz persönlich gefaßt wie etwa von Toller oder von Gorki, der nach dem Unionskongreß der Sowjetschriftsteller 1934 an Rolland schrieb: „Es tut mir sehr leid, daß ich nur noch kurze Zeit zu leben habe und daß ich die Tage nach dem Sieg nicht sehen werde. Aber ich bin meinem Schicksal und den Menschen zutiefst dankbar für das, was ich erlebt habe, was ich erlebe, und dafür, daß ich immer noch gemeinsam mit jenen arbeiten kann, die so beherzt, so mannhaft der herrlichen Zukunft, dem Festtag der Wiedergeburt der Menschheit entgegengehen.“ Selten sind auch einzelne Sätze, die sich einem einprägen – sei es weil sie analytisch so glänzend sind wie die zwei Zeilen in einem Gedicht Bechers über einen, der stumpf, verlustig seiner Menschenwürde, dahingelebt hat und sich anklagt:

Ich habe meinen Hunger mir gestillt
Mit dem Vergessen, das man mir bezahlt.

Sei es, weil sie so erschreckend ungenügend sind, wie wenn Thomas Mann schreibt: „Der Krieg ist zu einem schändlichen und allem Schöpferischen entgegengesetzten Müßiggang geworden, den der Künstler, nebst allem, was ihm dient und auf ihn abzielt, verabscheuen muß aus der Tiefe seines produktiven Instinkts.“ Der Krieg ein Müßiggang!

Und nun das große Erlebnis. Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, aus der, je mehr wir uns der Gegenwart nähern, neben den großen Alten viele jüngere Schriftsteller zu uns sprechen. Sie ist so viel reicher als die Vergangenheit an ganz persönlich gehaltenen Äußerungen, auch an markanten, einprägsamen Sätzen, so viel offener auch in der Sprache. Was hat die Friedensbewegung den Schriftsteller doch Neues in der Kunst der Agitation und Propaganda gelehrt! (Und wie wenig ist die fortschrittliche Presse hier mitgegangen!) Vielleicht hängt dieser Fortschritt mit der ungeheuerlich gesteigerten Bedrohung der Menschheit durch einen Krieg, der als Nuklearkrieg geführt wird, zusammen. Und wohl auch mit der Art, wie dieser Krieg geführt werden könnte – ohne die Völker, mit Experten. Wenn Staatsmänner und Wissenschaftler von der Vernichtung der Menschheit, so wie sie sich in den letzten Jahrtausenden entwickelt hat, durch einen Nuklearkrieg sprechen – dann ist es unlogisch, weiter von dem gesetzmäßigen Sieg des Sozialismus in der Welt auszugehen. Zum Frieden gehören immer zwei, zum Krieg nur einer, der ihn auslöst und so die Menschheit auf dieser Erde ermordet. Unter diesen Umständen wandelt sich unsere auf eine Gesetzmäßigkeit sich stützende Gewißheit des Sieges der Sozialismus in Optimismus, den Glauben an einen solchen Sieg, in einen Optimismus, der bisweilen auch durch realistischen Pessimismus unterbrochen werden kann.

Hat Christa Wolf nicht recht, wenn sie schreibt: „Wenn ich mich beobachte, ertappe ich mich täglich, nächtlich auf einem andauernden inneren Monolog, der kaum abreißt: Ist Europa, sind wir zu retten? Wenn ich scharf, rational überlege, alle mir zugänglichen Informationen über die Rüstung beider Seiten mir vor Augen halte, vor allem die Denkstrukturen, die diesen Rüstungen zugrunde liegen, dann heißt meine Antwort: Nein, oder: Wahrscheinlich nicht. Soll ich solche Sätze veröffentlichen? Wieder lege ich meinen Brief beiseite. Im Lauf des vergangenen Jahres, es war im April, habe ich eines jener Bewußtseinserlebnisse gehabt, die man selten im Leben hat und die man nicht vergißt. Der Sprecher von Fernsehnachrichten meldete, eine in London tagende Expertenkonferenz sei zu dem Ergebnis gekommen, Europa habe noch eine Überlebenszeit von drei, vier Jahren – für den Fall, daß die jetzige Politik weitergeführt werde. Da erlebte ich eine Minute, in der das geschah, was in drei, vier Jahren geschehen soll. Diese Minute hat nicht nur negativ in mir gewirkt – lähmend, aber ist gelähmt sein nicht sinnlos geworden? –, sie hat Zorn in mir freigesetzt und Freiheit. Wenn sie es wagen, die Vernichtung dieses Europa ins militärische Kalkül zu ziehn, dann dürfen wir, Morituri in den Statistiken der nuklearen Planungsstäbe, uns ja wohl noch einiges herausnehmen; dann ist ja wohl auch unsere Unterordnung unter die Logik, deren letzte Erscheinungsform die Rakete ist, sinnlos geworden, was heißt, daß wir nicht radikal genug sein können in unseren Fragen nach den Ursachen dieser radikalen Bedrohung …“

Ja, die Überlegung im ersten Absatz scheint mir völlig richtig – rein rational gesehen. Aber warum soll es nur rational zugehen – in uns und in der Welt? Wenn Christa Wolfs Reaktion dann Zorn und Freiheit in ihr freisetzt, warum nicht auch in den Völkern?

Wer auf die Rationalität Reagans und seiner Hintermänner setzt, der muß zum Pessimisten werden. Wer auf den Zorn und die innere Freiheit der Völker setzt, hat ein Recht auf Hoffnung und Optimismus.

Und unter dem Eindruck dieser Bedrohung der Menschheit können auch die ideologischen und Klassenschranken überwunden werden; von uns im Friedenskampf ebenso wie von der nuklearen Feuerstrahlung im Krieg. Wie klug, die Rede des Menenius in Shakespeares „Coriolan“ zurechtrückend, beginnt Jewgeni Jewtuschenko seine Rede auf der „Interlit“ in Köln 1982: „Könnten wir uns vorstellen, daß sich unsere Leber freut, weil unsere Nieren krank sind? Uns ausdenken, daß beide Hände begeistert Beifall klatschen, weil unser Bein gebrochen ist? Uns ausmalen, daß ein Auge fröhlich zwinkert, nachdem das andere entfernt wurde? Es scheint ein Bild von Kafka zu sein, das – weit entfernt von Surrealem – eben leider nur zu realistisch ist. Die Menschheit ist ein einziger Körper, und alle Länder sind nur Teile davon. Diese Teile stehen in einem erschöpfenden Kampf gegeneinander, was so unnatürlich ist, als hätte das Herz einen Krieg gegen die Lungen erklärt, als versuchte das Hirn den Bauch mit Napalm auszubrennen, wo ein noch ungeborener Tolstoi oder Beethoven liegt. Dies ist die Lage der Menschheit heute. Die Menschheit ist eine Art Körper, der dabei ist, sich selbst zu zerstören. Furchtbar ist nicht nur, daß einige Körperteile andere vernichten, viel schrecklicher ist ihre sadistische Freude am Leiden anderer Teile.“

Ja, das ist die Sprache unserer Zeit in unserer Situation, geformt von einem großen Dichter.

Und ist in diesem Zusammenhang nicht auch Volker Brauns Gedicht „Neuer Zweck der Armee Hadrians“ zu erwähnen, das uns Gedanken und Bilder vermittelt, die er alten Berichten, nur zwischen den Zeilen lesend, entnommen hat?

Von Hadrianus, dem Cäsar
Wird seit alters zwischen den Zeilen berichtet
Daß er seine Armee nicht brauchte, um Kriege zu führen
Für die das Reich zu riesig war zwischen irgendwelchen
Britannien und Cappadocien, sondern um zu reisen.
Da er die Truppen schon nicht
Abmustern konnte vor den Augen der Goten oder Sassaniden
Setzte er sie ein zu einem unüblichen Zweck
Nicht Städte niederzubrennen, sondern Städte zu gründen.
Wo seine Lanzenträger landeten, griffen sie zur Kelle
Und wo sie abzogen, war die Erde bewohnbar (…)
Er befehligte schließlich Steinmetze, Maurer und Schmiede.
Er wählte seine Leute vermutlich, aus ihren Blicken
Nicht kriegerischen Sinn lesend, sondern Kunstsinn
So daß sie noch Soldaten waren, aber schon Arbeiter
Schlagfertig noch und kunstfertig zugleich.
Dies alles zwischen den Zeilen
In einer längst toten Sprache. Aber wir wieder
Denken so heftig desgleichen, daß es uns zum Gleichnis wird …

Aus vielen Beiträgen möchte man sich einzelne Sätze herausschreiben, gewissermaßen als Zitatenschatz. So etwa aus Brechts Rede auf dem Wiener Völkerkongreß für den Frieden im Jahre 1952:

„Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns nicht naß, sagen viele. Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod.“

Ja, der äußerste Grad der Abgestumpftheit ist der Tod – auch wenn der Leib noch zucken mag. Oder aus Konstantin Fedins Rede auf dem Internationalen Schriftstellertreffen in Weimar (1965): „Hören wir aufmerksam, was die Wissenschaftler über die Bedrohung sagen, die von der zu trauriger Stunde geborenen Waffe des neuen Krieges ausgeht ...“ Fast kindlich einfach die „traurige Stunde“ und wie wirksam doch! Ja, es war eine traurige Stunde für die Menschheit, in der die erste Atombombe „fertig“ wurde.

Oder Sigbjoern Hoelmebakks Überlegung über die Angst vor dem Kriege: „Die Angst, das ist das Trojanische Pferd der Vernichtung in unseren Seelen, die Angst nimmt uns den Mut und verringert unsere Abwehrkräfte.“ Die Angst ein Trojanisches Pferd!

Und noch einmal Volker Braun: „Die Massen, die heute auf die Straße gehen, organisiert nicht der Hunger im Magen, sondern der Hunger nach Mitentscheidungen ihres Geschicks. Diesen Hunger kann man nicht abspeisen.“ Erschütternd, alle Schrecken vergangener Kriege als persönliches tragisches Schuldbekenntnis zusammenfassend, ist der Beitrag von Peter Bichsel, den er „Auf dem Weg zum Täter“ benennt. Nur der erste und letzte Absatz seien zitiert: „Ich bin ein Opfer des Libanonkrieges, weil er mich verroht hat, weil meine Erschütterung gespielt ist und weil mein Entsetzen in mein politisches Konzept paßt – und weil – bitte nehmen Sie mir das nicht übel – dieser Krieg seinen Teil dazu beiträgt, daß ich meine persönliche Trauer nicht mehr ernst nehmen darf. Was sind meine kleinen persönlichen Traurigkeiten – Schwierigkeiten mit einer Freundin zum Beispiel – gemessen an der Entsetzlichkeit des Krieges. Darf ich mich noch beklagen über Kopfschmerzen, wenn andere Hunger haben? ... Denn der große Schrecken macht den kleinen Schrecken möglich, und der Schrecken macht meine persönliche Trauer lächerlich, und ohne meine persönliche Trauer bin ich entmenschlicht und befinde mich auf dem Weg zum Täter.“

Welch grausame, realistische, tief und originell durchdachte Tragik persönlichen Zwiespalts! Eine seltene und doch so dringende Mahnung an alle, die glauben, in Großem zu denken genüge – eine Mahnung, auch wenn ein Nuklearkrieg kein Leben in solcher Tragik mehr erlauben würde.

Erkämpft den Frieden

Ljubomir Lewtschew aus Bulgarien sagte auf dem Sofioter Treffen 1980: „Freilich hat uns unsere Zeit, übersättigt von Petitionen und Resolutionen, die die Dinge nicht ändern, einen eigenartigen, ich möchte sogar sagen: gefährlichen Pragmatismus gelehrt: den unverzüglichen realen Nutzen selbst von solch erhabenen Dingen zu suchen, wie es die Kunst ist. Bisweilen denke ich, das Verlangen, irgendwelche konkreten Beweise für den Nutzen des Kampfes der Schriftsteller für den Frieden zu sehen, ist so naiv wie der Wunsch des Menschen, daß ein Wunder für ihn getan werde, damit er an Gott glaubt.“ Wie recht hat Lewtschew gegenüber solchen Pragmatikern, die wir auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens finden. Und wie unrecht hat er doch, werden so viele Leser dieses schönen, im Friedenskampf so wertvollen und, sagen wir, auch so pragmatischen, so konkret nützlichen Buches empfinden. Ich jedenfalls habe nach der Lektüre das doch wohl berechtigte Gefühl, daß mir viele der hier vereinten Schriftsteller geholfen haben, die mir gegebenen Kräfte ganz konkret wirksamer im Friedenskampf einzusetzen. Ja, ich hoffe, das schon mit diesen Bemerkungen getan zu haben.

Aus: „neue deutsche literatur“, Berlin/DDR, Heft 1/1984