RotFuchs 189 – Oktober 2013

Friedrich Dickel zu Gorbatschows Innenminister Bagatin:

„So beseitigen Sie den Sozialismus!“

Chefinspekteur a. D. Dieter Winderlich

Am 9. Dezember vor 100 Jahren wurde der Arbeitersohn Friedrich Dickel in Wuppertal geboren. In der deutschen Geschichte gab es keinen Minister seines Ressorts, der so lange im Amt gewesen wäre wie er. Der Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei der DDR stand vom 14. November 1963 bis zum 7. November 1989 auf seinem Posten. Welcher Erfahrungen, Charaktereigenschaften und Fähigkeiten bedarf es, über einen solchen Zeitraum eine derart umfangreiche und politisch brisante Aufgabe wahrzunehmen? Eine Antwort erfährt man durch einen Blick auf Friedrich Dickels bewegte Biographie. Auch persönliche Eindrücke und Erinnerungen sind da von Wert.

Im Frühjahr 1963 begegnete ich dem Minister zum ersten Mal persönlich. Er hatte die Leiter sämtlicher Strafvollzugsanstalten, deren Stellvertreter für politische Arbeit und die Parteisekretäre dieser Einrichtungen zu einer Dienstberatung nach Berlin geladen. Da unser Parteisekretär verhindert war, konnte ich als sein Stellvertreter in der SED-Grundorganisation des Jugendhauses Dessau daran teilnehmen. Die Leitung der Sitzung lag in den Händen von Oberst K. Er stand damals an der Spitze der Verwaltung Strafvollzug. K. gab zu Beginn eine Einschätzung der politischen Lage und der Situation in unserem Bereich. Die war nicht rosig. Es hagelte Kritik wegen etlicher Fälle des Entweichens Inhaftierter, einer hohen Rückfallquote und ungenügender Ergebnisse bei der Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für Strafgefangene. An allem waren die jeweiligen Leiter schuld. Sie wurden persönlich benannt und mußten nach militärischer Ordnung vor versammelter Mannschaft aufstehen. Auch die Stellvertreter für politische Arbeit bekamen ihr Fett weg, und wir Parteisekretäre wurden wegen unkritischer Atmosphäre in den Grundorganisationen gerügt.

Plötzlich ging die Tür auf und ein General betrat den Raum. Oberst K. unterbrach seinen Bericht mit „Achtung Genossen Offiziere!“ und erstattete Meldung. Erst jetzt war mir klar, daß es sich bei dem Generalleutnant um den Minister handelte. Dickel ließ die Beratung fortsetzen, begab sich auf den für ihn reservierten Stuhl im Präsidium und hörte zu. Auf einmal stand er auf, ging ans Rednerpult und deutete dem verdutzten Oberst K. an, er solle Platz nehmen. Friedrich Dickel begann, die Lage aus seiner Sicht darzustellen. Die Einschätzung war noch kritischer, doch die Schuld gab der Minister nicht den Leitern der Dienststellen und uns Parteifunktionären, sondern dem Ministerium des Innern und vor allem der Verwaltung Strafvollzug. Sie hätten versäumt, rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Oberst K. wurde so oft vom Minister namentlich genannt, daß er sich nicht hinzusetzen wagte. Er blieb die ganze Zeit stehen. Als junger Unterleutnant dachte ich bei mir: In diesem Ministerium und unter einem so strengen Chef möchtest du nie im Leben arbeiten.

13 Jahre später war Genosse Dickel – nun bereits Generaloberst – mein unmittelbarer Vorgesetzter. Gerade einmal 38 Jahre alt, leitete ich das Sekretariat des Ministers, hinter dem damals schon 63 Lebensjahre lagen.

Jetzt bot sich Gelegenheit, den Menschen Friedrich Dickel näher kennenzulernen. Wenn Aufgaben nicht erfüllt wurden oder sich die verantwortlichen Vorgesetzten herausreden wollten, konnte er recht kritisch werden. Als Choleriker wurde er dann sehr laut und direkt, hatte sich aber immer in der Gewalt. Mir gegenüber verhielt er sich als ein geduldiger Lehrer, merkte er doch schon zu Beginn, daß er mir mit der Dienststellung eine schwere Bürde auferlegt hatte.

Über seine persönlichen Erfahrungen im Kampf gegen den Faschismus, ob als Spanienkämpfer oder sowjetischer Kundschafter, sprach er kaum. Er verwies niemals auf seine antifaschistische Vergangenheit, um sich persönlich in den Vordergrund zu spielen. Seine Erfahrungen aufzuschreiben, lehnte er ab. Selbst als sich eine vertrauenswürdige junge Journalistin diesem Thema zuwenden wollte, blieb es bei einem einzigen Kontaktgespräch. Wir bedauerten das, besitzt doch niemand ein in sich geschlossenes Bild des Kommunisten F. D. Bisherigen Veröffentlichungen von Generälen des MdI entnimmt man nur Mosaiksteine. Angaben im Internet widersprechen sich zum Teil. Auch ich kann nur einige Erkenntnisse beisteuern, die zu einem exakteren Eindruck führen können.

Seine Vergangenheit erwähnte der Minister bisweilen mit seinen Amtskollegen aus sozialistischen Ländern oder auch mit Spanienkämpfern. Über Volkspolizisten, die früher in den Internationalen Brigaden gegen die Franco-Faschisten und deren deutsche Helfershelfer gekämpft hatten, hielt Dickel immer seine kameradschaftlich-schützende Hand. Jährlich gab er für sie im MdI einen Empfang.

Später, als ich einer seiner Stellvertreter war, schilderte er mir die Haftbedingungen in der Weimarer Republik und im kaiserlich-faschistischen Nippon. Er mußte Folter und Erniedrigung in japanischen Gefängnissen erdulden. Da war es kein Wunder, sondern eher logische Konsequenz seines Lebens und seiner klassenmäßigen Prägung, daß er als auch für den Strafvollzug in der DDR verantwortlicher Innenminister auf strikte Einhaltung der Gesetzlichkeit und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Gefangenen drang. Unter ihm war unsere Flanke nie das fünfte Rad am Wagen. Immer, wenn sich im Ringen um zusätzliche Planstellen, Investitionen oder Finanzmittel die Mühlen des Ministeriums festgefahren hatten und die Gefahr bestand, daß der Strafvollzug zugunsten der Volkspolizei hintangestellt werden könnte, sprach Genosse Dickel ein Machtwort. Durch seine Einflußnahme kam in den 70er Jahren ein Programm zum Neubau moderner Haftanstalten für weibliche Insassen und junge Strafgefangene zustande, das in Wriezen, Halle/Saale, Hohenleuben und Berlin-Grünau in die Tat umgesetzt wurde.

Kenntnisse in Menschenführung, militärisches Wissen und Erfahrungen erwarb Friedrich Dickel als Kompanieführer bei den Interbrigaden, als sowjetischer Kundschafter in Europa und Asien, als Stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung und beim Studium an der Akademie des sowjetischen Generalstabs.

Nach Ernennung zum Innenminister der DDR machte er aus dem MdI und der Deutschen Volkspolizei straff geführte Organe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Die einzelnen Dienstzweige der DVP entwickelten sich zu effektiv arbeitenden polizeilichen Fachbereichen.

Genosse Dickel gehörte nicht zum innersten Führungskern der SED, dem Politbüro. Anders als seine Amtskollegen aus NVA und MfS konnte er seine Vorstellungen dem Generalsekretär nicht direkt vortragen. Sein Gesprächspartner war Egon Krenz, zu dem er ein offenes Verhältnis hatte. Die Gefahr für den Sozialismus erkannte er zeitiger als die Parteiführung, was ich bei Telefonaten mit Erich Mielke und dem neuen sowjetischen Innenminister um die Jahresmitte 1989 wahrnahm.

Gorbatschows Kabinettsmitglied Bagatin kam mit seiner Frau zu einem Urlaubsaufenthalt in die DDR. Das Programm dafür war mit dem Innenministerium der UdSSR abgestimmt. Ich erhielt von Minister Dickel den Auftrag, mich um seinen Gast zu kümmern. Der Besuch sollte auf Wunsch der sowjetischen Seite der Erholung dienen. Öffentlichkeitswirksame Maßnahmen waren nicht vorgesehen.

Beim ersten Gespräch zum Verlauf seines Aufenthalts erklärte uns Bagatin, daß unter den bestehenden Umständen ein Minister einfach keinen Urlaub machen könne. Er bat um die Möglichkeit, Dienststellen der Volkspolizei und des Strafvollzugs zu besichtigen sowie um einen Erfahrungsaustausch mit Minister Dickel. All das ließ sich unschwer in die Wege leiten.

Wie bei Besuchen von Innenministern protokollarisch vorgesehen, holte ich Bagatin im Gästehaus ab und begleitete ihn zum Arbeitsgespräch mit Dickel ins MdI. Uns lotste ein Funkstreifenwagen mit Blaulicht. Mitten auf dem Adlergestell ließ Bagatin anhalten, was die zu seiner Sicherheit eingesetzten Personenschützer in Alarm versetzte. Er stieg aus, ging zum Funkstreifenwagen und schickte die Besatzung nach Hause. Die Genossen dachten, sie hätten sich verhört und rührten sich nicht vom Fleck. Dann klärte mich der Minister auf, daß eine derartige Begleitung „in Zeiten der Perestroika nicht mehr angebracht“ sei. Da der Gast König ist, entsprach ich seinem Wunsch.

Nach einem einwöchigen Aufenthalt in der DDR-Hauptstadt verbrachte das Ehepaar Bagatin noch zehn Tage in einem Gästehaus im Harz. Als es wieder in Berlin war, besuchte Minister Dickel eines Abends mit Bagatin das Café auf dem Fernsehturm am Alexanderplatz. Aus dieser Perspektive waren der Grenzverlauf und die Mauer sehr deutlich zu erkennen. Bagatin äußerte sein Unverständnis über die Mauer und meinte, man könne doch eine historisch gewachsene Stadt nicht dauerhaft auf solche Weise trennen. Minister Dickel widersprach mit allen verfügbaren Argumenten. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Bisher hatten uns sowjetische Politiker gerade wegen der Mauer stets als Vorposten des sozialistischen Weltsystems in Europa Anerkennung gezollt. Das konnte wohl kaum Bagatins persönliche Meinung sein, zählte er doch zu den neuen Köpfen in Moskau, die Gorbatschow selbst ausgesucht hatte. Wollte er uns etwa den Eindruck vermitteln, daß man die DDR aufzugeben bereit sei? Ich verwarf den Gedanken blitzschnell und dachte an den Blutzoll der Roten Armee und der Sowjetbürger bei der Befreiung Deutschlands. Niemals werde die UdSSR unser Land dem alleinigen Einfluß des Westens überlassen, dachte ich.

Bei mehreren Arbeitsgesprächen beider Minister wurden Gedanken und Erfahrungen zur Erhöhung der Wirksamkeit polizeilicher Arbeit ausgetauscht. Natürlich machte man in einem solchen Zusammenhang um die aktuelle Lage in beiden Ländern keinen Bogen. Als die Frage der eingeschränkten Reisefreiheit berührt wurde, erklärte Dickel seinem Gast, daß dies vor allem mit mangelnden Devisen zur Ausstattung der DDR-Bürger und der Nichtanerkennung unserer Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik zusammenhänge. Dickel nannte konkret die fehlende Summe von einer Milliarde Valuta-Mark. Selbst wenn dieser Betrag aufgebracht würde, stelle sich die Frage, wie bei Angehörigen der Volkspolizei zu verfahren sei. Schließlich wollten auch sie von Reisemöglichkeiten Gebrauch machen. Nun unterbreitete Bagatin unserem Minister einen verblüffenden Vorschlag. Er befürwortete einen verstärkten Urlauberaustausch zwischen beiden Ministerien und den Bau von Feriensiedlungen für Volkspolizisten in der Sowjetunion. Ich erinnerte mich des Mauer-Gesprächs auf dem Fernsehturm und fühlte mich darin bestärkt, daß die DDR im Kampf um das europäische Haus – die Lieblingsidee Gorbatschows – nicht geopfert werde.

Im Rahmen dieser Arbeitsgespräche gab es dann einen heftigen Meinungsstreit über die Perestroika. Je mehr Bagatin diese verherrlichte, um so konsequenter wurden die Gegenargumente Dickels. Es war streckenweise geradezu peinlich mitzuerleben, wie unser Minister dem jüngeren Amtskollegen aus Moskau elementare Begriffe des Marxismus erklären mußte. Als Bagatin dann den Standpunkt vertrat, die Parteiarbeit der KPdSU müsse fortan mehr in die Wohngebiete verlagert werden, nicht aber dort stattfinden, wo die Menschen arbeiteten, konnte sich der Kommunist Friedrich Dickel kaum noch beherrschen. Als Bagatin ins Schwärmen darüber geriet, unter den Bedingungen der Perestroika könne jeder schreiben und propagieren, was er wolle, fiel Dickels Satz: „So beseitigen Sie den Sozialismus, Genosse Minister!“

Wir, die wir dem Gespräch beiwohnten, waren regelrecht schockiert. So hatte Dickel noch nie mit einem sowjetischen Innenminister gesprochen. Doch der erfahrene Klassenkämpfer sollte mit seiner Voraussage, daß Gorbatschows Kurs den Sozialismus zerstören werde, recht behalten.

Nach dem Rücktritt der Regierung Willi Stophs konnte Genosse Dickel das Ministerium erhobenen Hauptes verlassen. Seinem Nachfolger Ahrend redete er nicht ins Geschäft. Den Anfeindungen gegen die Ordnungseinsätze der Berliner Volkspolizei am 7. Oktober 1989 bot er die Stirn.

Auffallend war, daß sich die konterrevolutionären Sieger gegenüber Friedrich Dickel zurückhielten. Mit Gesten zu seinen Gunsten seitens der bereits desertierten Moskauer Führung, die jeden Gedanken an den Sozialismus längst über Bord geworfen hatte, konnte er gewiß nicht rechnen. Der Solidarität von Interbrigadisten sowie der ehemaligen Kundschafter der UdSSR und ihrer Führungsoffiziere war er indes gewiß.

Armeegeneral Friedrich Dickel starb am 23. Oktober 1993 in Berlin-Grünau.

Generalmajor a. D. Dieter Winderlich war letzter Chef der Deutschen Volkspolizei