RotFuchs 211 – August 2015

Über kleine und große Bäume

Klaus Steiniger

Der kaiserlich-preußische Staatshistoriker Heinrich von Treitschke schrieb so manches längst in Vergessenheit Geratene. Doch an einem Satz aus seiner Feder reiben sich noch heute nicht grundlos all jene, welche den historischen und dialektischen Materialismus verinnerlicht haben. Er lautet: „Männer machen Geschichte.“ Nun mag man nicht grundlos den Einwand erheben, ich sei bei diesem Thema nicht gerade als Polemiker prädestiniert, erschien doch mein 1983 erstmals in Massenauflagen im Verlag Neues Leben herausgekommener Augenzeugenbericht vom Prozeß gegen Angela Davis Jahrzehnte später im selben Verlag unter dem eher irreführenden Titel „Eine Frau schreibt Geschichte“. Wohl unbeabsichtigt, hatte mich die renommierte Eulenspiegel-Verlagsgruppe dadurch mit Treitschke de facto auf eine Stufe gestellt. Mein Vorschlag, den die Protagonistin des seinerzeitigen Geschehens im kalifornischen San Jose kannte und billigte, hatte gelautet „Wie Angela Davis gerettet wurde“. Als wir uns 2010 dann in Berlin trafen, fragte mich Angela erstaunt, wie es denn zu dieser Änderung gekommen sei.

Natürlich geht es hier nicht um Wortklauberei, sondern um eine inhaltliche Frage von hoher theoretischer und praktischer Relevanz: die Rolle der Persönlichkeit im historischen Prozeß. „Machen“ oder „schreiben“ einzelne die Geschichte, oder sind die unter konkreten Bedingungen Einfluß erlangenden sozialen Kräfte – Marxisten sprechen von Klassen und Schichten – vielmehr der bestimmende Faktor?

Bei der Beantwortung dieser Frage sollte man jede Einseitigkeit oder undialektische Überhöhung der Rolle der Massen ebenso vermeiden wie die Verabsolutierung des bisweilen außergewöhnlichen Einflusses einzelner Personen oder Personengruppen. Ohne Zweifel besitzen herausragende Persönlichkeiten, die sich den Zeichen der Zeit nicht verschließen und den objektiven Erfordernissen wie dem subjektiven Willen maßgeblicher Kräfte der Gesellschaft Rechnung tragen, ein spezifisches Gewicht. Das gilt übrigens nicht nur in positiver, sondern natürlich auch in die Entwicklung zeitweilig hemmender negativer Hinsicht.

Was unsere „Seite der Barrikade“ – den Kampf gegen geistige Enge und politische Reaktion, für menschheitsbefreiende revolutionäre Ziele – betrifft, so fehlt es wohl nicht an inspirierenden Vorbildern.

Fragen wir direkt: Welche Rolle haben Marx und Engels mit dem Kommunistischen Manifest bei der Durchbrechung der geistigen Finsternis im kapitalistisch-imperialistischen Zeitalter gespielt? Wie wäre die russische Oktoberrevolution ohne Lenin verlaufen, und wie wurde – im konträren Sinne – sein Vermächtnis durch Gorbatschow und Jelzin in den Schmutz getreten? Oder auch: Was wäre das heutige Rußland ohne das sein Profil prägende politische Format eines Wladimir Putin?

Gerade in Momenten und Phasen äußerster Belastung und höchster Gefahr bedarf es politisch gebildeter, ideologisch gefestigter, in Strategie und Taktik erfahrener, kaltblütiger und zugleich warmherziger, vor allem aber volksnaher Führer.

Denken wir nur an Kuba. Als die UdSSR und die sozialistischen Staaten Europas buchstäblich „den Bach hinuntergingen“, gaben bürgerliche Politologen und andere Kaffeesatzleser der fast über Nacht allein gelassenen sozialistischen Karibikinsel keine zwei Monate mehr. Doch eine tief im Volk verwurzelte revolutionäre Partei wurde in dieser Situation durch einen Fidel Castro geführt. Mit ihm an der Spitze zerfielen die Prognosen der Gegner Kubas zu Staub. Kann man sich die grandiosen Siege Vietnams ohne Hô Chi Minh und seine Genossen vorstellen? Oder denken wir an Nelson Mandela, den Freiheitshelden vom Kap der Guten Hoffnung, der seinen unterdrückten schwarzen Landsleuten die Tore aufstieß?

Viele andere Persönlichkeiten müßten hier Erwähnung finden: Martin Luther King und Kongos Patrice Lumumba oder auch Che Guevara und Angela Davis. Sie gingen schon zu ihren Lebzeiten als Vorbilder von Millionen Menschen in die Geschichte ein.

Fünf heiße und kampferfüllte Jahre habe ich zwischen 1974 und 1979 als Chronist und Mitstreiter im Portugal der Nelkenrevolution den Generalsekretär des Partido Comunista Português Álvaro Cunhal viele Male hautnah erleben dürfen. Der am höchsten benotete Jura-Absolvent einer Universität seines Landes, Verfasser bedeutender theoretischer Werke und fesselnder Romane (Pseudonym: Manuel Tiago), zugleich aber auch ein hochtalentierter Grafiker verstand sich gleichermaßen auf die Kunst des entschlossenen Vormarsches wie des besonnenen Rückzugs. Seiner außergewöhnlichen strategischen Begabung und seinem taktischen Können verdankt die nach wie vor als marxistisch-leninistische Massenpartei intakte PCP, daß sie in der Stunde des Sieges der Konterrevolution ihr Pulver trocken zu halten und ihre Kader zu schützen vermochte. Manches Mal habe ich in den finsteren Zeiten des Kohlschen Triumphgebrülls und der tiefsten Not unserer dem Ansturm des Gegners recht widerstandslos preisgegebenen Heimat DDR im tiefsten Inneren gedacht: Hätten wir doch nur einen Castro, einen Hô Chi Minh oder einen Cunhal! Doch kommunistische Führer solchen Formats sind leider rar.

Am Beginn dieser Zeilen habe ich mich gegen die irreführende These, Männer oder Frauen machten oder schrieben Geschichte, gewandt. Und ich bleibe bei unserer Position von der Dialektik der Rolle der Massen und des spezifischen Gewichts von Persönlichkeiten hohen Kalibers. Ja, auf das Kaliber kommt es eben an.