RotFuchs 198 – Juli 2014

Wie ausgeschaltetes Denken zu mechanischen Reflexen führt

Über papageienhaftes Nachplappern

Eveline Sperling

Wie allgemein bekannt, ist das Gehirn ein enorm wichtiges Organ, komplexer, komplizierter als alle übrigen. Aber eben auch nur ein Organ. Deshalb braucht es wie der übrige Körper regelmäßige Beanspruchung. Es wächst gewissermaßen mit seinen Aufgaben. Ein angeborener hoher IQ schützt nicht vor Dummheit, wenn er nicht zum Denken und Lernen genutzt wird.

Immer wieder fasziniert mich der Widerspruch: Wieso glauben und reden kluge und sogar hochintelligente Menschen so offenkundigen Unsinn? Möglicherweise erreichen die Informationen, die sie aufnehmen, nur eine relativ niedrige Stufe ihres Gehirns, so daß sie lediglich verbal verstanden werden. Wenn solche Informationen nun tiefer eindringen möchten, um sich mit Inhalt, Bedeutung und anderen Dingen auseinanderzusetzen ist die „Tür zu“. Warum? Weil diese Menschen zu eigenständigen Überlegungen zu bequem sind, selbst wenn sie vom angeborenen Intellekt her durchaus dazu fähig wären. Sie beschränken sich vor allem beim Gehörten darauf, einige gängige Vokabeln oder Redewendungen im Gedächtnis zu speichern und bei passender Gelegenheit von sich zu geben.

Ein Beispiel unter vielen ist die derzeit häufig gebrauchte Redewendung „Das war noch in tiefster DDR.“ Die meisten einstigen DDR-Bürger wollen damit nur ausdrücken, daß ein Ereignis etliche Jahrzehnte zurückliegt. Um „in“ zu sein, akzeptieren sie, damit aber zu signalisieren, daß sie damals in der DDR kulturell, wirtschaftlich, sozial und wissenschaftlich auf niedrigstem Niveau gelebt haben sollen. Nicht wenige von ihnen unternahmen in den letzten 20 Jahren halbe Weltreisen, häufig dank ihrer Ersparnisse aus der „tiefsten DDR“. Sie haben die Not der Menschen in Afrika, Asien, Lateinamerika, ihre Elendshütten, in denen sie ohne Strom, Kanalisation und sauberes Wasser leben müssen, in Augenschein genommen. Wenn man sich mit dieser sozialen Rückständigkeit nur so weit befaßt, wie es ein Urlaubsfoto erfordert, dann fällt einem der Unterschied zur „tiefsten DDR“ mit ihrer sozialen Sicherheit, ihrer hohen Kultur, ihren unentgeltlichen Bildungschancen für alle und vielem anderem möglicherweise gar nicht mehr auf. Denn jeder Mensch, der nicht selber denkt, ist in erheblichem Maße manipulierbar, bis er kein Individuum mit eigenständigen Gedanken, Ansichten und Gefühlen mehr ist.

Wenn ich mich täglich mehrmals vor den Käfig meines Papageis stelle und ihm immer wieder denselben Satz vorspreche, wird er eines Tages bei meinem Anblick krächzen „Lori ist Muttis Liebling“. Dabei hat er nicht die geringste Ahnung was dieser Satz bedeutet. Begriffen hat er nur die Erwartungshaltung und die positive Reaktion, wenn er sie erfüllt. Schon bald darauf gibt Lori ihren Satz unaufgefordert von sich, wenn auch nur irgend jemand in ihre Sichtweite kommt.

Heute scheint es mir so, als sei die DDR voller „Loris“ gewesen. Die Platitüden werden ihnen von Medien vorgegeben. Sie lernen sie auswendig, und wenn sie Gesprächspartnern begegnen, lassen sie ihre Sprüche ganz automatisch vom Stapel. Dabei ist es ihnen wie Lori egal, mit wem sie über was sprechen. Das ist ebenfalls nicht mehr als eine Reaktion, von der sie glauben, daß sie von ihnen erwartet wird und ohne die man sie nicht für voll nehmen würde.

Fidel Castro hat das in einem Interview mit Ignacio Ramonet wunderbar formuliert: „Als die Massenmedien aufkamen, haben sie sich des Geistes bemächtigt, und sie steuern nicht nur Lügen, sondern auch konditionierte Reflexe. Eine Lüge ist nicht das gleiche wie ein konditionierter Reflex. Die Lüge beeinträchtigt das Wissen, der konditionierte Reflex aber die Fähigkeit zu denken. Und es ist nicht das gleiche, ob man desinformiert ist oder ob man das Denkvermögen verloren hat, weil die Reflexe deinen Verstand beherrschen: ,Der Sozialismus ist schlecht, der Sozialismus ist schlecht, er nimmt dir das Sorgerecht, er nimmt dir das Haus, er nimmt dir die Frau.‘ Und alle Unwissenden, alle Analphabeten, alle Armen und Ausgebeuteten wiederholen: ,Der Sozialismus ist schlecht, der Sozialismus ist schlecht.’“

Die Tatsache, daß Fidel Castro ein Phänomen so treffend beschreibt, mit dem man in Deutschland täglich konfrontiert wird, zeigt, daß es sich dabei um eine weltweite Erscheinung handelt. Ich frage mich, wohin das alles nur führen soll. Hightech, die manchmal wie ein Wunder anmutet, und millionenfach ausgeschaltetes eigenes Denken – wie paßt das zusammen?