RotFuchs 209 – Juni 2015

Im Verhältnis zur Oder-Neiße-Friedensgrenze
schieden sich die Geister

Vor 65 Jahren wurde das
Görlitzer Abkommen signiert

Friedrich Thiemann

Das Jahr 2015 begann mit Kriegen. Sie finden derzeit sowohl im Nahen und Mittleren Osten als auch auf dem europäischen Kontinent statt. So bleibt der Kampf für den Frieden das wichtigste Anliegen auf der politischen Agenda.

Es ist üblich geworden, gelegentlich auf die „glückliche Lage Deutschlands“ zu verweisen. Seit einem Vierteljahrhundert gebe es an den Grenzen der BRD nur befreundete und verbündete Staaten, heißt es.

Gar nicht üblich hingegen ist eine Benennung der wesentlichen Schritte, die zu dieser Situation geführt und beigetragen haben. Dabei war die Ausgangsposition für gute Nachbarschaft 1945 sehr ungünstig. Die Deutschen hatten sich mit dem Hitlerfaschismus und dem durch ihn entfesselten Krieg alle Welt zum Feind gemacht. Die Nachbarn in Ost und West besaßen gute Gründe, ihnen mit Mißtrauen zu begegnen.

Ist es da nicht von Relevanz und öffentlichem Interesse, wie der grundlegende Wandel nach der Zerschlagung des Faschismus zustande kam? Friedenspolitik heißt doch auch, die gute Nachbarschaft mit allen Anliegerstaaten für die Zukunft zu bewahren. Das Wissen, welche Schritte den Wandel von Feindschaft zu verläßlicher Koexistenz bewirkt haben, sollte daher kein Spezialwissen einiger Politiker sein, sondern Allgemeingut einer aufgeklärten Gesellschaft.

Wie ist der Stand der Dinge?

Daß Konrad Adenauer Wert auf eine Aussöhnung mit Frankreich legte, kann man gelegentlich lesen oder hören. Hatte er dabei eigentlich Widerstände zu überwinden? Gab es außer unverbesserlichen Nazis zu seiner Zeit in der BRD politisch relevante Kräfte, die gegen eine Überwindung dieser vermeintlichen „Erbfeindschaft“ Einwände erhoben? Wohl kaum.

Ganz anderer Natur war hingegen der Umgang mit den Nachbarn im Osten. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage der deutschen Ostgrenze. Zeit seiner Kanzlerschaft beharrte Adenauer auf den Grenzen von 1937.

Aufschlußreich ist die Tatsache, daß Deutschland im Zuge des Anschlusses der DDR an die BRD 1990 nicht nach den Vorstellungen Adenauers, sondern nach denen Walter Ulbrichts und der DDR – was Gebietsfragen betrifft – formiert worden ist. Und das ist gut so.

Allerdings ist diese Tatsache kaum ins öffentlichen Bewußtsein gedrungen. Die Frage, ob mit dem 2+4-Vertrag 1990 die Vorstellungen Adenauers oder Ulbrichts festgeschrieben wurden, gilt offenbar als ein Tabu. Das ist um so seltsamer, wenn man den Zusammenhang zwischen der Teilung Deutschlands und der Grenze im Osten betrachtet.

In diesem Sommer ist es 65 Jahre her, daß die entscheidenden Schritte für den Frieden im Osten gegangen wurden. Am 6. Juni 1950 fand die Unterzeichnung der Warschauer Deklaration über die Oder-Neiße-Grenze statt. Nur einen Monat später – am 6. Juli – wurde das Abkommen von Görlitz/Zgorzelec über die Grenze zwischen der DDR und der VR Polen feierlich signiert.

Dagegen erhob sich aus dem Westen massiver Protest. Mit Ausnahme der KPD wollten alle im Bundestag vertretenen Parteien nicht wahrhaben, zu welchen Resultaten der Hitlerkrieg geführt hatte. In einer Gemeinsamen Erklärung vom 13. 6. 1950, der auch die Bundesregierung zustimmte, wurde die Forderung nach den Grenzen von 1937 erhoben. Sie blieb in der Alt-BRD der Adenauer-Ära allgegenwärtig. In allen Schulen wurde bereits den Kindern dieses revanchistische Verlangen vermittelt.

Die Wetterkarte des ARD-Fernsehens, die man im Verbund mit der Tagesschau präsentierte, zeigte die Grenzen von 1937. Den Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, wurde jahrzehntelang Abend für Abend vorgegaukelt, sie könnten irgendwann wieder dorthin zurückkehren. Hat sich für diese Irreführung schon mal jemand von den tonangebenden Parteien bei den Betroffenen entschuldigt?

Aus Anlaß des 25. Jahrestages der Unterzeichnung des Abkommens von Görlitz/Zgorzelec sollte man den von der DDR und Volkspolen herbeigeführten „Frieden im Osten“ würdigen und untersuchen, welchen Einfluß der Streit um die Oder-Neiße-Grenze auf die Situation des Kalten Krieges und die sogenannte deutsche Frage hatte.

Im März 1952 ließ der „Westen“ durch das Ignorieren der „Stalin-Noten“ die sich ihm bietende Möglichkeit ungenutzt, die DDR durch eine Vereinigung nach österreichischem Muster wieder loszuwerden.

Am 17. Juni 1953 richteten sich die Unruhen in Teilen der DDR auch gegen die Oder-Neiße-Grenze. Leider werden diese revanchistischen Aktionen heute mitunter sehr gedankenlos als „Willensbekundungen für die deutsche Einheit“ bezeichnet. Dabei gerät in Vergessenheit, daß es um eine Einheit nach Adenauers Muster ging. Soll so die Forderung nach den Grenzen von 1937 gewissermaßen durch die Hintertür wiederbelebt werden?

Man bedenke: Am 9. Mai 1955 wurde der NATO-Beitritt der BRD rechtskräftig. Dieser neue Mitgliedsstaat des westlichen Militärpaktes erhob zur gleichen Zeit Gebietsforderungen gegen die UdSSR und die VR Polen.

Welche Folgen mußte das für den West-Ost-Konflikt haben?

Noch 1960 betrachtete die Regierung der BRD ihren „Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen“ als dafür zuständig, ob in einem Atlas der Ortsname „Königsberg“ oder „Kaliningrad“ stehen durfte. Mit anderen Worten: Man bezog das sogenannte Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes damals auch auf Ostpreußen, Schlesien und Pommern.

1961 nahm das ökonomische Gefälle zwischen der DDR und der BRD zu, also auch die Abwanderung von DDR-Bürgern in den Westen. Für die DDR entstand eine Krisensituation. 1955 hatte Chruschtschow mit den Westmächten den Staatsvertrag für Österreich geschlossen und die Rote Armee aus dem Land abgezogen. Warum konnte es 1961 nicht eine ähnliche Lösung für die DDR geben? Ein Grund war dieser: In Bonn träumte man weiter von Königsberg, das längst Kaliningrad hieß. Auch der SPD-Politiker Willy Brandt hing noch solchen Illusionen nach. Unter diesen vom Westen gesetzten Prämissen konnte es 1961 keine deutsche Einheit geben. Der Realist John F. Kennedy kommentierte das so: „Eine Mauer ist tausendmal besser als ein Krieg.“

Erst 29 Jahre später sah sich Helmut Kohl als Kanzler dazu gezwungen, auch in den Unionsparteien wohl oder übel die Akzeptanz der Oder-Neiße-Grenze durchzusetzen. Zu dieser Erkenntnis hatte man in Bonn 38 Jahre gebraucht.