RotFuchs 235 – August 2017

Vor 90 Jahren: Justizmord in den USA

Herbert Lederer

In der Nacht vom 22. zum 23. August 1927 wurden die beiden italienischen Arbeiter Nicola Sacco (35) und Bartolomeo Vanzetti (39) auf dem elektrischen Stuhl im USA-Staat Massachusetts hingerichtet.

Im Juli 1977 hatte der damalige Gouverneur dieses US-Staates, Michael Dukakis, eingestanden, daß Sacco und Vanzetti einem Justizmord zum Opfer gefallen sind. Damit erfolgte – wenn auch zögernd und erst nach einem halben Jahrhundert – die Rehabilitierung der beiden Arbeiter, für deren Leben sich Millionen Menschen einge­setzt hatten.

Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti waren 1908 aus Italien nach den USA ausge­wandert. Sie arbeiteten beide in der Gewerkschaft. Als sie sich im Mai 1920 an einer Protestaktion gegen die brutalen Methoden der Polizei beteiligten, erfolgte ihre Verhaftung. Sie wurden beschuldigt, einen Raubmord an zwei Lohnboten verübt zu haben. Obwohl sie ihre Schuldlosigkeit beteuerten, Zeugenaussagen ihr Alibi erhär­teten und später einer der wirklichen Mörder bestätigte, daß Sacco und Vanzetti mit dem Verbrechen nichts zu tun haben, wurden sie am 14. Juli 1921 schuldig gespro­chen.

Vanzetti und Sacco als Angeklagte, mit Handschellen aneinander gefesselt

Demonstrationen und Kundgebungen in aller Welt, ihre Verteidiger, namhafte Schrift­steller, Künstler und Wissenschaftler forderten die Revision des Verfahrens. Aber die Justiz beharrte auf dem Vollzug des auf Fälschungen, Intrigen und Lügen gestützten Urteils.

Sacco und Vanzetti wurden das Opfer einer Klassenjustiz, die mit der Hinrichtung der beiden Arbeiter andere von der Teilnahme am gewerkschaftlichen und politischen Kampf für den Fortschritt abschrecken wollte.

Sie dürfen nicht vergessen werden!

Der preußische Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung 1927: „Millionen und aber Millionen von Proletariern werden die beiden Hingerichteten fortan als vom Kapitalismus hingerichtete Märtyrer betrachten. Wohl werden die Sacco-Vanzetti-Demonstrationen abflauen, aber es wäre ein Irrtum zu glauben, daß damit für die radikale Arbeiterbewegung der Fall Sacco-Vanzetti erledigt wäre.“

Wie wahr! Sie sind unvergessen!

Am 23. August 1927 wurden die beiden italienischen Arbeiter Nicola Sacco und Bar­tolomeo Vanzetti auf dem elektrischen Stuhl in den USA zu Tode gefoltert. Sieben Jahre lang war es gelungen, den Tod zu verhindern, die Henker zu stoppen. Kurz vor und nach der Hinrichtung kam es in aller Welt, auch in Deutschland, zu Demonstra­tionen von einem vorher selten erlebten Ausmaß. Im Mai 1927 waren von über 50 Millionen Menschen unterschriebene Protestresolutionen überreicht worden. Ameri­kanische Läden und Konsulate wurden gestürmt; in Hamburg und Paris kam es zu Barrikadenkämpfen; Betriebe hörten auf zu arbeiten; im Ruhrgebiet schlossen verschiedene Schachtanlagen; in Leipzig gab Polizeipräsident Fleißner, der sich selbst als linker Sozialdemokrat begriff, Schießbefehl. Arbeiter gaben Leben und Freiheit in der Solidarität. 24 Jahre Zuchthaus, 10 Jahre Gefängnis erhielten 17 Hamburger Arbeiter für ihre Demonstrationsteilnahme.

„Es genügt nicht, einmal empört zu sein und zu trauern. Die Arbeiter müssen zäh und konsequent alle Kräfte anstrengen, um diese verrottete Gesellschaft zu beseitigen“, rief Ernst Thälmann 150 000 Berlinern zu.

Kurt Tucholsky versprach in einem aufrüttelnden Gedicht:

Diesen Schwur
an ihrer Bahre:
Alle für zwei.
Ihr starbt nicht allein.
Es soll ihnen
nicht vergessen sein.

Es ist ihnen nicht vergessen.

1908 zwang die Not sie, ihre Heimat Italien zu verlassen, um ihr Glück in dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ zu suchen. Schwer wurde es ihnen gemacht. Der Einberufung zum Wehrdienst folgten sie nicht. Sie weigerten sich, auf Klassengenos­sen zu schießen, und gingen nach Mexiko.

Als sie nach dem 1. Weltkrieg in die USA zurückkehrten, wurde es ihnen noch schwe­rer gemacht. Sacco, gelernter Schuhmacher, erhielt schließlich Arbeit in einer Schuh­fabrik in Brockton; Vanzetti, gelernter Bäcker, blieb erwerbslos, obwohl mit besten Zeugnissen versehen. Sein Fehler, wie er ihn selbst beschrieb? Immer wieder ver­sucht zu haben, etwas Licht in das dunkle Leben seiner Arbeitskollegen zu bringen. Sein Dasein fristete er schließlich durch den Handel mit Fischen.

Die Kriegsgegnerschaft dieser beiden italienischen Arbeitsemigranten war bekannt. Auf den schwarzen Listen der Unternehmer und ihrer Staatsorgane waren sie als „Rote“ vermerkt. Unter den Industriearbeitern ihrer Zwangsheimat, natürlich vor allem unter ihren italienischen Landsleuten, waren sie beliebt und geachtet als klassenbe­wußte, bescheidene, mutige Arbeiter.

Den Herrschenden waren sie ein Dorn im Auge. Mit ihrer Polizei und Justiz schmie­deten sie in Massachusetts ein Komplott. Sacco und Vanzetti wurden von anderen begangene Verbrechen in die Schuhe geschoben.

Fälschlich wurden sie beschuldigt, 15 000 Dollar Lohngelder in South Braintree ge­raubt und einen Wächter getötet zu haben. Die Polizei kannte die Spuren, die zu den wahren Tätern führte, einer gestand einige Zeit später seine Teilnahme und beteuerte die Unschuld von Nicola und Barto. Aber die Aufdeckung des Verbrechens interes­sierte nicht. Im Mai 1920, gerade als Nicola und Barto für die Aufklärung des Todes eines italienischen Kollegen arbeiteten, wurden sie verhaftet. Mit ihrer Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung sollte die amerikanische Arbeiterbewegung getroffen werden. Sacco und Vanzetti waren bei Streiks dabei, halfen sie organisieren, hatten durch ihr konsequentes Handeln Vertrauen unter ihren Klassengenossen. Sie lasen, nahmen an Zirkeln teil, um Antworten zu finden, wie die Lage, ihre eigene und die ihrer Brüder, verbessert werden, wo der Ausweg aus ihrer Misere sein könnte.

Das Ergebnis beschrieb Vanzetti in einem seiner Briefe aus dem Gefängnis: „Ich lernte, daß Klassenbewußtsein keine Phrase ist, die von Propagandisten erfunden wurde, sondern eine reale lebensspendende Kraft, und daß jene, die diese Bedeutung spürten, nicht mehr Lastenträger blieben, sondern zu Menschen wurden.“ Er und Sacco waren zu Menschen geworden.

Ihren Ideen nach waren sie Anarchosyndikalisten. Während Anarchismus und Syndi­kalismus in Europa – mit Ausnahme von Spanien – in der Zwischenkriegszeit zur völligen Bedeutungslosigkeit herabgesunken waren, galt dies nicht für Lateinamerika und auch nicht für das Rumpfamerika, die Vereinigten Staaten.

In den USA verbreiteten sich gerade unter den grenzenlos ausgebeuteten italieni­schen und spanischen Einwanderern sehr spontan anarchistische Ideen. Sie hatten halbfeudale Verhältnisse, die solche Ideen gefördert hatten, hinter sich gelassen und fanden eine zur Verzweiflung und sofortigen Lösung drängende neue Umwelt vor, die sie zwang, die schlechtest bezahlten Stellen anzunehmen.

Anarchistisch in ihren Ideen, waren Sacco und Vanzetti in erster Linie Arbeiter, be­wußte, tätige Revolutionäre, Kollegen und Genossen. Wie spuckte doch ihr Gerichts­vorsitzender über Vanzetti: „Dieser Mensch, wenn er auch das Verbrechen, das ihm zugeschrieben wird, nicht materiell begangen hat, ist immerhin moralisch schuldig: weil er der Feind der gegenwärtigen Institutionen ist.“

Die, die Nicolas und Bartos schnellen Tod wollten, hatten sich verrechnet, sie hatten außer acht gelassen, daß längst die Zeit vorbei war, in der Arbeiter allein standen, isoliert ihren Kampf führten. Vor allem hatten sie das Land Lenins nicht einkalkuliert, das Land, in dem seit dem Roten Oktober proletarischer Internationalismus zur Maxi­me von Regierung und Volk geworden war. Basis und Zentrum der Solidaritätsbe­wegung war die Internationale Rote Hilfe (IRH), in der eine machtvolle Einheitsfront der Werktätigen aller Länder gegen den imperialistischen Terror geschaffen worden war. Sie rief, wie Clara Zetkin es beschrieb, zur Rettung von Sacco und Vanzetti auf. Auch in der Bewegung selbst wurde, je intensiver der Kampf sich entfaltete, die Frage der Parteizugehörigkeit in den Hintergrund gestellt. Sozialdemokratische, kommu­nistische, parteilose, christliche, anarchistische Arbeiter fanden sich im Gedanken der Klassensolidarität zusammen. Sie wußten: Die Hetze gegen Sacco und Vanzetti, das Urteil der Klassenjustiz war gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung insge­samt gerichtet, gegen „Rote, Radikale, Bolschewisten, Kommunisten“ im Namen des Antikommunismus.

Auch wenn das Leben von Nicola und Barto nicht gerettet werden konnte – trotz Streiks, Protesten, Demonstrationen in aller Welt – gehört dieser Kampf zu den größten Taten der internationalen Arbeiterklasse, der Kommunisten der Welt, allen voran den Kommunisten der Sowjetunion. Hier zeigte sich, was es bedeutet, nicht national borniert, sondern internationalistisch orientiert und auch organisiert zu sein. Ohne die Internationale der Kommunisten – Ergebnis der gemeinsamen Interessen – wäre die Solidaritätsbewegung für das Leben von Sacco und Vanzetti in ihrer Massenhaftigkeit, Wirkung, Vielfalt, Phantasie und Kraft nicht vorstellbar gewesen.

Der Kampf um ihr Leben erzog Millionen Arbeiter im Geist des proletarischen Internationalismus, der zu einer immer mächtigeren und stärkeren, schließlich den Faschismus überwindenden Kraft wuchs. Eine Kraft, die mit zum Sieg des vietna­mesischen Volkes beitrug, die Luis Corvalan und Angela Davis retten half.

„Wollen wir es schnell erreichen, brauchen wir noch Dich und Dich,
wer im Stich läßt seinesgleichen, läßt ja nur sich selbst im Stich.“

Bertolt Brecht