RotFuchs 190 – November 2013

Was Archie unter Lebensqualität versteht

Manfred Hocke

Manchmal, besonders an Feiertagen, grübelt Archie über Begriffe wie Lebensniveau nach. Dann sucht er am Bildschirm nach einer besinnlichen Sendung klassischer Musik oder nach einem niveauvollen Fernsehspiel, findet aber nur wenig oder gar nichts davon. Die Programme der Privatsender betrachtet er vorwiegend als fade bis trivial oder krawallig und klamaukhaft, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Die neue Berufsgruppe der sogenannten Comedians produziert sich immer flauer und flacher. Meist zerlatschen sie ihre eigenen Pointen, setzen sich drauf, wenn überhaupt welche da sind. Ein Riesen-Publikum kreischt schenkelklatschend schon beim Erscheinen dieser Möchtegern-Komiker, unbegreiflich für Archie, wobei er zugesteht, daß es bisweilen auch echt Humoriges gibt. Wirklich Interessantes oder Sehenswertes kommt allerdings meist erst um Mitternacht.

Beim Zappen geriet Archie schon vor Jahren in eine Art Kasperle-Theater: Ein Pfarrer interviewte den anderen. Beide ähnelten aus Holz geschnitzten Marionetten. Der eine von ihnen war schon vor Jahren zum ZDF-Journalisten mutiert, gab sich aber immer noch hahnig-pastoral, der andere galt in früheren Jahren bei eingeweihten Kreisen als McCarthy der BRD. Nun spielte er die Rolle eines von der SPD und den Grünen ins Rennen geschickten Präsidentschaftskandidaten, was nicht nur Archie schon damals als schizophren empfand. „McCarthy“ rutschte beim ersten Anlauf hinten runter, weil da Merkels CDU noch nicht mit im Boot war. Später erpreßte sie dann ihr seinerzeitiger Koalitionspartner FDP.

Die beiden Expfarrer stellten im Interview, das irgendwie in Archies Gedächtnis haftet, die BRD als schönste aller Welten mit der höchstmöglichen Lebensqualität dar. Da war von Bankenkrächen, S-Bahn-Chaos und Kinderarmut, von Hartz-IV-Prozessen ohne Ende und immer neuen Dioxin-Skandalen, von Giftmüll-Futter für Schweine und Hühner natürlich keine Rede. Alles wurde in Seidenpapier eingewickelt. Archies älteste Enkelin meinte nur: „Ganz schön heftig, eh, die beiden, wo leben wir denn eigentlich, kraß, eh.“

Der vor sich hin salbadernde Fast-Präsident – seine Sternstunde kam erst später – behauptete mit milder Kanzelstimme, die hie und da zu beobachtende Politikverdrossenheit sei ganz leicht zu beheben. Man müsse nur einen Blick ins Ausland werfen, wo alles doch in puncto Lebensqualität weit schlimmer sei. Ein seltsames Argument. Aber so sind sie halt, die Sonntagsprediger a. D. unter sich.

Da geht es Archie durch den Kopf, was für einen durchschnittlichen Arbeiter oder kleinen Angestellten – von der Wiege bis zur Bahre – eigentlich unter Lebensqualität zu verstehen ist. Das Thema eignet sich für eine Volksbefragung, am besten anonym, damit keiner um seinen Broterwerb zittern muß, wenn er überhaupt einen Job hat. Leider sind Volksbefragungen ja im Grundgesetz nicht vorgesehen.

Echte Lebensqualität kann jedenfalls dort niemals entstehen, wo Existenzangst mit im Spiel ist oder Altersarmut droht. Bis zum Ende aller Tage lediglich dahinzuvegetieren oder dem Nachwuchs nicht das bieten zu können, was über Kinderarmut hinausgeht, hat mit normalem Leben nichts zu tun, mit Qualität noch weniger.

Ist die Lebensqualität großer Gruppen der Gesellschaft dauerhaft bedroht, werden aus den Gut-Bürgern mit der Zeit Mut-Bürger und schließlich Wut-Bürger. Sie fahren aus der Haut, rufen andere zum Protest auf oder demonstrieren sogar im Bankenviertel von Frankfurt am Main. Drehen die auf die Palme gebrachten Wut-Bürger aber stärker an der Schraube, können sie das ganze System in Schwierigkeiten bringen.

Ein Paradebeispiel für gesunkene Lebensqualität in der Hauptstadt ist übrigens der jammervolle Niedergang der Berliner S-Bahn. Damals, zu DDR-Zeiten, als das Normal-Ticket noch 20 Pfennig kostete, fuhren die Züge merkwürdigerweise auch im Winter verläßlich. Jetzt – für den Nahverkehrs-Fahrschein muß man mehr als den Preis eines Brotes berappen – werden die Passagiere mit immer den gleichen Sprüchen und Ausflüchten von Senat und Bundesbahn abgespeist. Profit und Dividende rangieren weit vor den Bedürfnissen der Bevölkerung. Heiliges Kanonenrohr! denkt Archie, was sich die Leute so alles bieten lassen! Warum trinken sie denn auch noch von dem Kakao, durch den man sie zieht?

Angesichts dessen ist es wirklich schwer, keine Satire zu schreiben. Aber dafür haben ja die beiden eingangs erwähnten geistlichen Herren a. D. gesorgt, über deren groteskes Salbadern zum Thema Lebensqualität man sich eigentlich nur totlachen konnte.