RotFuchs 202 – November 2014

Im März 1991 stimmten 115,3 Millionen Sowjetbürger
für den Erhalt der UdSSR

Wie Jelzin den Volkswillen mit Füßen trat

Dr. Vera Butler

Gegen Ende des Jahres 1990 bemühte sich Gorbatschow um ein neues Abkommen der zur UdSSR gehörenden Sowjetrepubliken, während Jelzin derartige Versuche nach Kräften hintertrieb. Er zählte die Bedingungen auf, unter denen sich Rußland vielleicht an dem Projekt beteiligen würde. Sie waren so formuliert, daß dabei die territoriale, finanzielle und ökonomische Basis, derer es für eine starke und erneuerte Sowjetunion bedurft hätte, vernichtet worden wäre. „Wir sind gegen eine Union auf Rußlands Kosten!“ spielte Jelzin die Karte des Nationalismus. Zugleich war das ein Signal an die Adresse verschiedener ethnischer Gruppen des Unionsstaates, fortan eigene Wege zu gehen.

Jelzins Bemühungen, die Russische Föderation von der UdSSR zu trennen, lösten zunehmende Besorgnis unter jenen aus, welche sich noch in der Illusion wiegten, Perestroika sei der Begriff für einen Prozeß tatsächlicher Demokratisierung, nicht aber für die Vernichtung des Staates. Am 25. Dezember 1990 forderte die Vierte Tagung der Volksdeputierten der UdSSR ausdrücklich „die Beibehaltung der Ganzheit der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken bei der Umgestaltung des multinationalen Staates in eine freiwillige Union souveräner Republiken mit gleichen Rechten, einen demokratischen und föderalen Staat“.

Durch das Gremium wurde der Beschluß gefaßt, dem Volk in Gestalt eines Referendums die Frage zu unterbreiten, ob die Union beibehalten werden solle oder nicht. Als Termin wurde der 17. März 1991 bestimmt.

Bereits zu Beginn dieses Prozesses hatte es klare Anzeichen dafür gegeben, daß die Politiker des rechten Flügels der „neosowjetischen“ Kräfte das Ergebnis eines solchen Referendums ignorieren würden – es sei denn, es paßte in ihr Konzept zur Vernichtung der UdSSR.

Nikolai Leonow, einst Generalleutnant der sowjetischen Aufklärung, beschrieb 1994 die frenetischen Bemühungen der sich als „Demokratisches Rußland“ ausgebenden antikommunistischen Opposition, eine Abstimmung zugunsten des Weiterbestehens der Sowjetunion um jeden Preis zu hintertreiben:

„Am Sonntag, dem 10. März 1991, überflutete eine Welle von Protestmeetings gegen das Referendum das Land. Der Widerstand gegen die Volksabstimmung war indes nur ein Vorwand: In Wirklichkeit ging es um die Macht. Die meisten Losungen, welche die Demonstranten mit sich führten, griffen Gorbatschow an und priesen Jelzin.

Augenscheinlich organisierte sich die Opposition in Windeseile. Sämtliche Versammlungen wurden von Mitgliedern des parlamentarischen Blocks ‚Demokratisches Rußland‘, die selbst nach so entfernten Städten wie Omsk und Wladiwostok eigens aus Moskau angereist waren, gelenkt und geleitet. Auch immer mehr Arbeiter begannen, sich der Intelligenz anzuschließen. Einige Jahre zuvor hatten die Bergleute politische Agitatoren davongejagt, von denen der Versuch unternommen worden war, sich an ihre Streiks zu klammern. Jetzt verlangte fast jeder Grubenarbeiter die Abdankung Gorbatschows und dessen Gefolges. So ergab es sich, daß der letzte Präsident der UdSSR – schwankend, inkonsequent und von begrenzter Begabung, wie er war – zum Hauptgehilfen der Opposition wurde.“

Jelzin und dessen Komplizen versuchten, in Rußland weiterhin nationalistische Gefühle zu entfachen und in anderen Republiken gegen die Unterstützung eines Fortbestands der Union zu agitieren. Doch trotz des großen Aufwands war diesen Anstrengungen kein Erfolg beschieden.

Das Referendum vom 17. März 1991 ergab eine beeindruckende Mehrheit für die Beibehaltung der Union. Die offiziell bekanntgegebenen Zahlen sprachen für sich.

Hier ein Überblick:

Anzahl der Stimmberechtigten 185 647 355  
Abgegebene Stimmen 148 574 606 (80,0 %)
Davon votierten mit Ja 113 512 812 (76,4 %)
Neinstimmen 32 303 977 (21,7 %)
Ungültige Stimmen 2 757 817 (1,9 %)

Doch der Zersetzungsprozeß hatte bereits Wirkung gezeigt: Sechs Republiken – Armenien, Georgien, Estland, Lettland, Litauen und Moldawien – verweigerten dem zentralen Beschluß, das Referendum abzuhalten, die Gefolgschaft. In zahllosen Fällen hinderte man Bürger, die votieren wollten, durch Einschüchterung und andere Formen der Druckausübung daran, von ihrem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen.

Dennoch gaben auch dort über zwei Millionen Wahlberechtigte – meist ethnische Russen – ihre Stimme für den Fortbestand der UdSSR ab.

Die Mehrheit der Bürger der Union und die große Majorität der Russen entschieden sich damals für einen einheitlichen sozialistischen Staat. Nach Angaben Leonows beteiligten sich in der Russischen Föderation 75 % der Wahlberechtigten, von denen wiederum 70 % Jastimmen abgaben. In der Ukraine waren es sogar 83 % bzw. 70 %, in Belorußland jeweils 83 %. In den übrigen Republiken fiel die Entscheidung für die UdSSR noch eindeutiger aus. Von dort, wo offiziell keine Teilnahme am Referendum stattfand, wurden dennoch Ergebnisse vermeldet. So stimmten in Lettland mehr als 500 000 Bürger, in Litauen mehr als 600 000 und in Moldawien über 800 000 Wahlberechtigte ab. Hier handelte es sich vor allem um den engagiertesten Teil der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit. Dennoch konnten die Ergebnisse wohl kaum als Votum „unbedeutender Gruppen von Rentnern“ ausgelegt werden, wie chauvinistische Politiker und deren Medien behaupteten.

Geben wir zum Schluß noch einmal Generalleutnant Leonow das Wort:

„Was benötigten Politiker mehr, um die Sowjetunion angesichts solcher Resultate zu erhalten? Der Wille des Volkes hatte sich klar und unwiderruflich dafür ausgesprochen. Es fehlte nur ein kleiner Schritt: Man hätte die Ergebnisse des Referendums formell anerkennen und die separatistische Propaganda verbieten müssen, die darauf abzielte, die UdSSR zu zerstören. Die Unionsregierung benutzte diese einmalig günstige Gelegenheit, das Vaterland zu retten, jedoch nicht. Sie ,vergaß‘ einfach, sich auf die Resultate des Referendums zu stützen, während die Opposition – nach kurzer Verblüfftheit – weiter das Feuer des Separatismus schürte, ohne die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen.

Der Wille des Volkes wurde schamlos mißachtet.“

gestützt auf „Sowjetskaja Rossija“ (12.12.1990) und „Prawda“ (27.3.1991), beide Moskau

Unsere in Riga als Tochter eines Russen und einer Baltendeutschen geborene Autorin, die diesen Artikel bereits 2007 schrieb, promovierte an der Universität Melbourne zu dem Thema: „Aspekte der australisch-sowjetischen Beziehungen“.