RotFuchs 189 – Oktober 2013

Wie die Profitjäger des Kapitals künstlich Bedürfnisse schaffen

Zur „fordistischen“ Konsumgesellschaft

Jobst-Heinrich Müller

Für die ideologischen Väter der kapitalistischen „freien Marktwirtschaft“ David Ricardo (1772–1823) und Adam Smith (1723–1790) galt das „eherne Lohngesetz“, das lediglich die Reproduktionskosten einer Arbeiterfamilie als „rentable und notwendige Versorgung“ anerkennt. Heute ist dieses – in Abhängigkeit von der Lage auf dem Arbeitsmarkt – nicht einmal gewährleistet. So waren 2009 mehr als eine Milliarde Menschen chronisch unterernährt, täglich starben 25 000 von ihnen. Ursache dafür ist nicht ein objektiv bestehender Mangel an Gütern, sondern allein deren ungleiche Verteilung. Selbst in ausgesprochenen Hungerländern, in denen die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, fehlt es im Angebot weder an Rolex-Uhren noch an Kaviar.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist für den erzeugten Reichtum zu eng geworden und sucht ständig nach Möglichkeiten innovativer Technologien wie globaler Vermarktung. Marx und Engels warfen bereits im Kommunistischen Manifest die Frage auf: „Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften, andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“

Getrieben vom Zwang zu immer mehr Wachstum und Konkurrenz haben die Kapitalisten Mittel und Wege gesucht, durch das Wecken künstlicher Bedürfnisse die im Ergebnis des Ringens sozialer Bewegungen gestiegene Kaufkraft der arbeitenden Massen systematisch abzuschöpfen. Der nach dem US-Autokönig Henry Ford benannte „Fordismus“ verfügt heute über ein hochdifferenziertes Instrumentarium markt- und klassenspezifischer Konsumgüterangebote, deren Erwerb „Wohlstand und Glück“ verheißt.

Die weltweit erfolgreiche Verbreitung dieser Konsumideologie wurde zum scharfen Schwert im Kampf gegen den real existierenden Sozialismus und stabilisierte zugleich in reichen Ländern das kapitalistische System. Eingeleitet wurde sie mit dem Warenkreditprogramm des Marshallplans (1948), das zugleich den Kalten Krieg an der Wirtschaftsfront eröffnete. Es folgte Ludwig Erhards „soziale Marktwirtschaft“. Diese Ideologie führt zur Entsolidarisierung, indem sie den werktätigen Massen ein „freies Konsumparadies“ vorgaukelt, von dem Selbstwertgefühl und Status der Menschen abhängen.

Doch seit dem Wegfall sozialistischer Gegenmodelle in Europa geraten immer mehr Konsumenten in eine Situation, die ihnen den Erwerb solcher Erzeugnisse verwehrt. Kürzere Produktlebenszyklen zwingen zu immer neuen Angeboten, die durch geschickte wirtschaftspsychologische Werbung vermarktet werden müssen. Der Wettlauf um die Senkung der Produktionskosten und die Möglichkeit sofortiger globaler Beschaffung vernichten große Anteile der knapper werdenden endlichen Ressourcen. Sie zerstören die Lebensgrundlagen künftiger Generationen in aller Welt. Ob hohe oder niedrigere Preise – der Konkurrenzdruck zwingt ständig zum Betrug. Schäbige Billigprodukte werden mit Etiketten wie „Spitzenqualität“ oder „Hauch von Luxus“ versehen, um den Massen eine Teilhabe am dekadenten Wohlleben der Reichen vorzugaukeln. Wer davon ausgeschlossen bleibt, wird als „Versager“ abgestempelt. Statt sich gegen das System aufzulehnen, besorgen sich Jugendliche – wie 2011 in London – die heißersehnten Statussymbole durch Plünderungen bei Armutsrevolten.

Diese Konsumgesellschaft ist fern von der „Abwesenheit jeglichen Mangels“ und „gesellschaftlichem Überschuß“ – den hehren Verheißungen einer sozialistischen Wirtschaftsordnung. Als Etappenziel auf dem Weg zur Zukunftssicherung der Menschheit bleibt das Ringen um eine sozial gerechte Sicherung der Grundbedürfnisse an Nahrung, Kleidung, Wohnraum, gesundheitlicher Betreuung und Bildung. Die insgesamt erzeugten Lebensmittel und die vorhandenen Ressourcen reichen dazu heute noch aus, wie die Welternährungsorganisation FAO ermittelt hat. Diese Situation aufrechtzuerhalten, setzt eine fundamentale Veränderung der Verteilungsverhältnisse und den Verzicht auf haltlose „fordistische“ Verschwendung voraus.

Wer heute die Einschränkung der Produktion privater Kraftfahrzeuge und – stattdessen – den Ausbau eines bezahlbaren öffentlichen Nahverkehrsnetzes, den Einsatz von Haushaltsmitteln für den sozialen Wohnungsbau und ein Gesundheitswesen in öffentlicher Hand fordert, sollte stets daran erinnert werden, daß es all das in der DDR bereits gegeben hat. Sie war in diesem Sinne einer der wohlhabendsten Staaten der Welt. Durch Wirtschaftsboykott und einen ihr aufgezwungenen Rüstungswettlauf, aber auch durch Fehler bei RGW-Planungsmaßnahmen konnte die potentielle Leistungsfähigkeit der sozialistischen Gemeinwirtschaftsmodelle nicht voll ausgeschöpft werden. Dennoch kehrt manches, was es im sozialistischen Staat bereits als Selbstverständlichkeit gab, heute stillschweigend in ökologische und soziale Forderungskataloge zurück, die an die „westliche Wohlstandsgesellschaft“ adressiert sind.

Wer wirklich neue Wege sucht, kommt an der Vergesellschaftung der Ressourcen, Produktionsmittel und Verkehrskapazitäten, aber auch zentraler Bereiche des Handels mit Konsumgütern nicht vorbei. Überfluß steht dann für kulturelle und bildungspolitische Entfaltung wirklich freier Menschen zur Verfügung, deren Glück und Selbstwertgefühl nicht mehr vom Genuß einer Banane abhängen wird.