RotFuchs 186 – Juli 2013

Wie die Treuhand mit den Erben der IG Farben kungelte

Der Leuna-Deal

Dr. Helga-Helena Liebecke

Der „Verkauf“ der dem DDR-Volkseigentum entrissenen Leuna-Werke in Halle/Bitterfeld an den französischen Elf-Konzern wird seit 1991 streng geheimgehalten. Warum?

Dieser Deal der Treuhandanstalt unter Birgit Breuel konnte bis heute nicht aufgeklärt werden. Die dazugehörigen Dokumente dürften überwiegend zu jenen gehören, welche für die Dauer von 50 Jahren unter strengstem Verschluß bleiben sollen. Die Gründe dafür werden verständlicher, wenn man die bewegte Geschichte dieses Unternehmens genauer betrachtet.

Die Leuna-Werke befanden sich auf dem Territorium des Nazi-Konglomerats IG Farben, das 1945 enteignet wurde. Mehrere deutsche Konzerne, die unmittelbar in die Vorbereitung und Durchführung des hitlerschen Aggressionskrieges verstrickt waren, betrieben es. 1990 sollen die „Liquidatoren der IG Farben“ Anspruch auf 151 Millionen Quadratmeter Betriebsgelände dieser Unternehmensgruppe auf dem Territorium der DDR erhoben haben, erfährt man aus Martin Flugs Buch „Treuhand-Poker. Der Mechanismus des Ausverkaufs“.

Während der Zeit des Faschismus belieferten die IG Farben vor allem die Nazi-Wehrmacht und andere militärische Formationen des faschistischen Staates mit chemisch hergestelltem Treibstoff für Panzer und Flugzeuge. Von ihnen wurde aber auch das Giftgas Zyklon B für das Massenvernichtungslager Auschwitz produziert.

Substantielles Belastungsmaterial in Sachen IG Farben hatte die „Finance-Task-Force“ in den Jahren 1945 und 1946 zusammengetragen. Ihre Dokumentensammlung bewies die zentrale Rolle der IG Farben bei der Planung und Führung des Krieges. So wurden deren Werke in Leuna-Merseburg nicht zufällig zu einem bevorzugten Angriffsziel der alliierten Bomberverbände. Daß die riesige Anlage nur leicht zerstört überdauerte, lag daran, daß die Faschisten dieses Industriegebiet in künstlichen Nebel gehüllt hatten.

Die IG Farben ließen hier Tausende und aber Tausende Zwangsarbeiter aus vielen Ländern zu unmenschlicher Schinderei antreiben, um das Letzte aus ihnen herauszupressen. Die enormen Extraprofite des Konzerns resultierten aus Sklavenarbeit. Bis heute ist Überlebenden keinerlei Entschädigung gezahlt worden. Ein großer Teil der meist jüdischen Zwangsarbeiter wurde in Auschwitz ermordet, in dessen Nähe der Konzern eine „Filiale“ eingerichtet hatte.

Die IG Farben wurden im Nürnberger Prozeß vom Alliierten-Tribunal wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Während ihre vom Alliierten Kontrollrat verfügte Enteignung im Osten konsequent umgesetzt wurde, geschah dies im Westen nur halbherzig. Große Teile des IG-Farben-Besitzes gingen an deren Gründerfirmen BASF, Thyssen, Krupp und andere zurück.

Angesichts der internationalen Ächtung und Brandmarkung der IG Farben war es der Treuhand nicht möglich, Thyssen als ehemaligem Teilhaber der IG Farben die von ihm begehrten Leuna-Werke nach der Annexion der DDR offiziell zu „verkaufen“. Die BRD-Regierung konnte sich nicht so weit vorwagen, einen wegen Kriegsverbrechen enteigneten Konzern direkten Weges dessen „Erben“ auszuliefern. Selbst Birgit Breuel, die Tochter des Bankiers Alwin Münchmeyer, der mit dem Oberarisierer Freiherr Kurt von Schröder die Privatbank SMH betrieben hatte, durfte sich das als Chefin der Treuhandanstalt nicht erlauben. Und dennoch hat Thyssen einen Teil von Leuna bekommen. Wie war das möglich?

Zunächst gab es mit Detlef Karsten Rohwedder, Breuels Vorgänger, der dann am 1. April 1991 ermordet wurde, in dieser Sache offensichtlich Meinungsverschiedenheiten. Rohwedder beschwerte sich immer öfter darüber, daß die Regierung noch nicht geklärt habe, was mit jenem Teil des Eigentums geschehen solle, auf welchem „Altansprüche“ lägen. „Das wirklich ernste Problem, an dem wir zu knacken haben, sind die ungeklärten Eigentumsverhältnisse in der ehemaligen DDR. Alles, was uns jetzt gehört und was wir privatisieren sollen, hat irgendwann einmal jemand anderem gehört. Freihändig und ohne Rücksichtnahme auf die früheren Rechtsverhältnisse können wir also überhaupt nicht privatisieren“, erklärte er dem „Spiegel“ im Januar 1991. Alles müsse „hoppla, hoppla gehen“.

Doch die Bundesregierung hob die Hände und überließ der Treuhandanstalt alle Entscheidungen. Klar, daß sich ein Konzern wie Thyssen als ehemaliger Teilhaber der IG Farben die mit dem Anschluß der DDR entstandene neue Möglichkeit nicht entgehen lassen wollte, „seinen Besitz“ als „legitimer Erbe“ zurückzuerlangen. Es ist sogar denkbar, daß sich die Werke damals bereits in den Händen der Thyssen AG oder eines anderen der Konzerne befanden, welche die IG Farben mit gegründet hatten, oder daß ein Kaufvertrag abgeschlossen worden war und Geld an die Treuhandanstalt fließen sollte. Man war sich seiner „Eigentümerfunktion“ durchaus bewußt. Dabei spielten Entscheidungen des Alliierten Kontrollrates keine Rolle. Und wenn die DDR-Bürger das Werk, in dem nun völlig andere Produkte hergestellt wurden, vorerst aufrechterhielten und sogar noch modernisierten, dann war das für die „legitimen Erben“ absolut normal. Immerhin hatten diese ja 40 Jahre lang den Nutzen aus ihrem VEB gezogen, ohne auch nur einen Pfennig Pacht oder irgendeine Gebühr dafür zu zahlen.

Könnte es nicht sein, daß sich Thyssen bereits 1990 als Eigentümer betrachtete, so daß ein Kauf der Leuna-Werke für diesen Konzern niemals zur Debatte und deshalb auch nicht auf der Tagesordnung der Treuhandanstalt gestanden hatte? Und wäre es nicht denkbar, daß Treuhand-Präsident Rohwedder die Zusammenhänge der seinerzeitigen Vereinigung von Thyssen, BASF und Krupp zum Monopol IG Farben ebenso genau kannte wie die Details der Enteignung durch den Alliierten Kontrollrat? Schließlich hatte er ja zuvor bei Hoesch zum obersten Management gehört.

Fragen wir weiter: Und könnte es nicht auch sein, daß aus den Reihen derer, die sich als die „legitimen Erben“ und tatsächlichen Besitzer der Leuna-Werke betrachteten, die Observierer und späteren Mörder Rohwedders angeheuert wurden? In jedem Falle hätten sie ein Motiv. Denn nach Rohwedders Tod gab es mit der neuen Treuhandchefin Breuel, die besonderes Interesse an der Vertuschung und Verschleierung von Tatsachen gehabt haben dürfte, in dieser Hinsicht keinerlei Differenzen mehr.

Könnte es nicht auch sein, daß Rohwedders Düsseldorfer Nachbar Dieter Spethmann bei dessen Observierung eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat? Und: Warum wurde Rohwedder nicht in Berlin, im Auto, auf einer Tribüne oder unter freiem Himmel, bei einem Disput mit dem aufgebrachten Volk ermordet? Spethmanns protzige Villa stand damals unmittelbar neben dem Haus der Familie Rohwedder. Das aber hatte ihm Hoesch weiterhin überlassen. Spethmann war inzwischen „zufällig“ auch ein hoher Manager der Thyssen AG.

Wäre es nicht vorstellbar, daß Rohwedder auf die Enteignung der IG Farben wegen begangener Kriegsverbrechen hingewiesen und sich gegen den „Verkauf“ an die „Tochtergesellschaft“ Thyssen AG gestellt hat? Könnte das nicht der entscheidende Grund dafür gewesen sein, daß ihn irgend jemand „ausschalten“ wollte?

Merkwürdig sind auch der Einbruch und die Brandstiftung bei der Treuhandanstalt-Niederlassung in Berlins Schneeglöckchenstraße. Das geschah nur drei Tage vor Rohwedders Ermordung in seinem Düsseldorfer Haus. „Thomas Münzers Wilder Haufen“ nannte sich die Gruppe, die am Brandort einen maschinegeschriebenen Brief hinterließ und zwei Tage später eine weitere Botschaft an die Treuhand richtete. Darin hieß es u. a.: „Wir sind weder die Stasi noch Wirtschaftskriminelle oder deren Helfer/-innen. Uns war aus revolutionärer Sicht daran gelegen, die Arbeit des Superkonzerns Treuhand ein wenig zu sabotieren.“

Handelte es sich dabei um ein großangelegtes Ablenkungsmanöver? Oder sollten das etwa jene Profis sein, die Rohwedder schon mit dem ersten Schuß aus 63 Metern Entfernung tödlich trafen? Die Ermittler wollen damals in der ersten Etage seines Hauses u. a. ein „Bekennerschreiben“ mit dem fünfzackigen Stern der RAF gefunden haben. Waren die Täter wirklich in deren Reihen zu suchen? Und wer war so versiert, gleich mit der ersten Kugel die Aorta des Opfers zu durchbohren?

Die Hoesch AG, in der Rohwedder zum Top-Personal gehört hatte, wurde übrigens noch im selben Jahr von Thyssen/Krupp übernommen. Bis dieser seine Tätigkeit als Präsident der Treuhandanstalt antrat, hatte der erfahrene Manager als Vorstandsvorsitzender der Hoesch AG dieses Unternehmen erfolgreich saniert, wofür er als „Manager des Jahres“ dekoriert worden war. Und ausgerechnet ein solcher Mann kam urplötzlich „abhanden“?

1991 wurde die Hoesch AG im Zuge einer „feindlichen Übernahme“ vom damaligen Krupp-Konzern aufgekauft. Dazu schrieb der „Spiegel“ am 14. Oktober 1991: „Der Stahlkonzern Krupp will den Konkurrenten Hoesch schlucken. Heimlich hat er mit Hilfe der WestLB eine Mehrheit aufgekauft. Das Monopoly an der Ruhr markiert einen neuen Stil in der deutschen Industrie. Massenentlassungen drohen, Krupp plant rigorose Rationalisierungsmaßnahmen. Droht ein neues Rheinhausen?“

Hoesch-Chef Karl-Josef Neukirchen hatte nach eigenen Aussagen vom klammheimlich vorbereiteten Einstieg Krupps bei Hoesch nichts gewußt und es nicht einmal geahnt. Er verstehe „unter einer Liebesheirat etwas anderes“, ließ er wissen.

Vielleicht hatte Rohwedder davon Wind bekommen und versucht, dagegen anzugehen.

Natürlich sind das alles Spekulationen.

Was mit den Leuna-Werken nach Rohwedders Tod passierte, konnte kaum noch einer der Treuhandmanager nachvollziehen. Nur Frau Breuel schien mehr zu wissen.

Ende 1991 soll es drei offizielle Kauf-angebote für die Leuna-Werke gegeben haben: Das erste kam von ESSO, das zweite vom BP Konzern und das dritte von Elf. Obwohl der französische Konzern das wenigste Geld geboten hatte, erhielt er den Zuschlag. Die mit dem Leuna-Deal befaßten Manager der Treuhandanstalt, aber auch Politiker wie Reinhard Höppner, damals Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, haben nicht verstanden, was hier gespielt wurde. Danach pumpte man in Leuna noch viele Steuer-Millionen, als Solidaritätsgelder firmiert, hinein, so daß Elf am Ende kaum etwas dafür gezahlt haben dürfte. Dem Konzern wurden außerdem auch noch sämtliche Minol-Tankstellen der DDR zugeschanzt. Über deren Preis weiß man nichts. Es heißt, CDU-Politiker seien dafür bestochen worden, daß sie mitmachten oder zumindest schwiegen. Auch die Manager und Rechtsanwälte von Elf hätten hohe Summen kassiert, war zu erfahren. Es wurde viel spekuliert, und Eingeweihte wußten, daß hier etwas nicht in Ordnung war. Doch was?

Denkbar ist auch diese Version: Frankreichs Regierung kannte sämtliche Details der IG-Farben-Enteignung. Da nicht bekannt werden durfte, daß sich die Nachkommen des wegen Kriegsverbrechen zunächst enteigneten und dann in DDR-Volkseigentum verwandelten gigantischen Unternehmens offiziell wieder um ihren ursprünglichen Besitz bewerben wollten, erhielt Frankreichs halbstaatlicher Konzern Elf den Zuschlag. Inwieweit das Ganze nur inszeniert war, um die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen, mag dahingestellt sein. Feststehen soll indes, daß auch die Thyssen AG einen Teil der Leuna-Werke – so oder so – abbekommen hat.

Aus der alten BRD stammende Vertreter der Treuhandanstalt waren, selbst wenn sie persönlich integer und gutwillig gewesen sein sollten, kaum von Kenntnissen der eigenen Wirtschaftsgeschichte beleckt, geschweige denn jener der DDR. Und wer diesen Deal auch nur in Frage stellte, dagegen anschrieb oder Zweifel anmeldete, wurde sofort als „Stasi“-Handlanger diffamiert oder auf andere Weise mundtot gemacht.